Verschiedene Kommentatoren bescheinigen dem deutschen Medienecho „ausgeblendete Realität“ und ein „Nachwirken der nationalsozialistischen Geschichte“. Bereits am 3. Dezember lieferte die Neue Zürcher Zeitung zuverlässig hochwertige Beiträge zum Thema: „Die Deutschen und das Minarett“ des Berliner Kommunikationsberaters und Moderators Hans-Hermann Tiedje sowie „Vom Glauben zum Wissen“ von Hamed Abdel-Samad, Politik-wissenschaftler und Historiker an der Uni München. Der Gastautor Tiedje konstatiert, „Medienverteter und Durchschnittsbürger leben beim Thema Islam in getrennten Welten.“
Seine Diagnose: Multikulti scheitert in Deutschland. Die Skepsis gegenüber Muslimen und Moscheen sei vor allem genährt durch das Treffen der Massenmörder vom 11. September 2001 in Gebetsräumen in Hamburg. „Teile der Publizistik“ schließt er, seien „zu ungetrübten Denkprozessen nicht imstande aufgrund der immer noch schwer lastenden Schatten von Hitlers Untaten“. In die gleiche Richtung tendiert auch Heribert Seifert in der NZZ vom 8. Dezember: „Aufklärer, Schönredner und Prediger“: „Offenkundig wirkt hier die nationalsozialistische Geschichte nach und führt zu einer spezifischen Verzerrung bei der Wahrnehmung des Integrationsproblems.“ Weiter stellt er in Hinblick auf deutsche Leitartikler fest: „Der penetrant vormundschaftliche Auftritt, das unsichere Schwanken zwischen offener Information und schönfärbender Camouflage haben beim Publikum zu lebhaftem Widerspruch geführt.“ Nachzulesen in den Leserkommentaren auf den Websites der Zeitungen und in Blogs.
Der gebürtige Ägypter Abdel-Samad liefert handfeste Argumente für die Ursachen des Integrationsproblems: Alles Neue werde im orthodoxen Islam negativ gesehen. Ein Anschluss an die Moderne sei in der vorherrschenden islamischen Welt daher nicht gewollt, zusätzlich genährt durch ein spätestens seit Napoleons Ankern vor Alexandrien historisch verwurzeltes „Gefühl der Ohnmacht und Demütigung, das die islamische Welt gegenüber Europa empfindet“. Alle „Erneuerungswellen brachen am Fels der Orthodoxie“, formuliert er. Als noch entscheidender bewertet er die dem Islam eigene „archaische Kultur der Ehre und des Widerstands“, die nicht verkraftet habe, dass sie die führende Rolle in der Welt längst verloren hat.
Sehr interessant in diesem Zusammenhang der kulturhistorische Ausflug von Christian Seebaum am 8. Dezember in Scala auf WDR5, wonach es einerseits kaum moderne Moscheen gibt, andererseits Kuppelbauten und Minarette erst nach der Eroberung Konstantinopels entstanden seien, als die Sophienkirche Hagia Sophia in eine Moschee umverwandelt wurde, während christliche Gotteshäuser ihrerseits sich aus römischen Markthallen entwickelt haben. Der Autor fragt: „Aber eine wirklich moderne Lösung für einen Sakralbau – geht das überhaupt? Steht die Moderne doch für Aufklärung, Demokratie, Rationalität und kritisches Hinterfragen, währen Religion, gleich welcher Richtung, vor allem auf der Sehnsucht nach letzten Wahrheiten begründet ist.“
In der Welt vom 3. Dezember erläutert die Schweizer Feministin Julia Onken im Interview, warum sie für das Minarettverbot in der Schweiz gestimmt hat. Es sei unredlich, dagegen zu stimmen, nur weil die Initiative von Rechtspopulisten stamme: „Das Minarett ist ein politisches Symbol für eine Rechtsordnung, in der Frauenrechte nicht vorkommen, und somit ein Zeichen für staatliche Akzeptanz der Unterdrückung der Frau.“ Dennoch zeigt sie sich „erschüttert“, dass die Vorlage angenommen wurde: „Aber trotzdem bedeutet die Abstimmung nur eins: Halt! Die Integration erreicht die Basis nicht. Viele Frauen dürfen nur verschleiert aus dem Haus, können kaum Deutsch, haben keinen Zugang zu Wissen. Das ist eine eklatante Verletzung der Frauenrechte, die kann man nicht über Religionsfreiheit stellen, genauso wenig wie Zwangsheirat, Ehrenmord, Genitalverstümmelung.“ Eine Argumentation, der ich mich schwerlich entziehen kann.
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss hat recht, wenn er in der FAZ vom 05. Dezember schreibt: „Das Minarettverbot löst nicht das kleinste Problem, hingegen schafft es auf einer institutionellen Ebene ein ziemlich großes, und kein Staatsrechtler kann sagen, wie es gelöst wird.“ Allerdings erscheint auch hierfür der Erklärungsversuch von Julia Onken plausibel: „Es ist bedauerlich wenn Stellvertreter-Diskussionen geführt werden müssen, aber das geschieht immer dann, wenn die wahren Gründe erstickt werden.“
Tags: Frauenrechte, Integrationsproblem, Islam, Minarettverbot, Religionsfreiheit