Ausflug in die alte Heimat meiner Mutter

Aus Anlass ihres 60. Abiturjubiläums besuchte meine Mutter ihre alte Heimat Ostfriesland, genauer gesagt die Stadt Leer und das dortige Teletta-Groß-Gymnasiums (früher: Oberschule für Mädchen). Nachdem sie mit alten Freunden anschließend mehrere Tage verbracht hatte, holte ich sie dort mit dem Wagen ab, um den Ort ihrer Kindheit Grotegaste zu besuchen (gehört heute zur Gemeinde Westoverledingen). Dort waren meine Großeltern Dorfschullehrer, auf dem Friedhof liegt mein Onkel begraben. Gleichzeitig war die Reise in die Kindheit meiner Mutter der Abschluss unseres gemeinsamen Biografieprojektes „Von Ostfriesland an den Bodensee„, das wir im vergangenen Jahr gemeinsam geschrieben und in diesem Jahr überarbeitet haben.

Die Mündung der Leda in die Ems bei Leer

Von Leer aus ging es über das sehr attraktive Örtchen Driever am Deich entlang nach Dorenborg, von wo die Grotegaster Straße mit früher nur zehn Häusern in den Hamrich hineinreicht. Viele Häuser sind nicht mehr dieselben wie vor 60 Jahren, als die Familie meiner Mutter aus der kleinen Siedlung mit Schule und Kirche nach Leer zog. Das war genau im Jahr 1950, als meine Mutter ihr Abitur bestanden hatte und anschließend ein Auslandsjahr in England antrat.

Verfallenes Gulfhaus in Grotegaste

Ein paar Höfe wurden renoviert, andere sind neu gebaut, wieder andere hätten es nötig. Typische alte Gulfhäuser (ausführlich in der Biografie beschrieben) gibt es heute kaum noch. An der Stelle des ehemaligen Lehrerhauses steht längst ein anderes, das seit Kurzem nicht mehr bewohnt wird (und beim späteren Teetrinken meiner Mutter unverwandt zum neuerlichen Bewohnen empfohlen wurde).

Die ev.-ref. St. Johannes Baptist-Kirche in Grotegaste

Wir machten uns einen Eindruck von der Größe und Lage des ehemaligen Gartens sowie des Schulhofes, auf dem meiner Mutter als Kleinkind die ersten Schritte gelangen. Erster emotionaler Moment war der Besuch der evangelisch-reformierten St. Johannes Baptist-Kirche im Ort (oben), die auf einer Warft erbaut ist, in der mein Großvater in den 1930er Jahren während der Gottesdienste die pneumatische Orgel spielte. Meine Mutter oder ihre Geschwister mussten dazu die Bälge treten.

Ansicht der Grotegaster Orgel, auf der rechten Seite sitzt der Organist

Der zweite emotionale Moment war der Rundgang über den rings um die Kirche gelegenen Friedhof. Viele Namen der mir aus den Erzählungen meiner Mutter bekannten Personen waren da zu lesen, aber vor allem stand ich zum ersten Mal am Grab meines verehrten Onkels Wilhelm, der mir das Gitarrespielen nahebrachte und dessen schalkhafter Humor für viele Lacher sorgte. Anschließend waren wir beim über 80jährigen Bruder einer früheren Klassenkameradin meiner Mutter und seiner Frau im Dorf zum Teetrinken eingeladen. Die Kultur mit Porzellan, auf dem die originale Friesenrose aufgemalt ist, und Silberlöffeln, sowie mit Kandiszucker und einem Schöpflöffel für das „Wulkje“, die Sahnewolke im Tee, machten dies zu einem unvergesslichen Erlebnis. Passend dazu las ich erst tags zuvor die Statistik:

Kölner Stadt-Anzeiger, 02.06.2010, Zahl des Tages: 290 Liter Tee

Anschließend ging es vorbei an Hilkenborg in Richtung Papenburg, wo die bekannte Meier-Werft Riesenschiffe baut, die rückwärts über die Ems in die Nordsee gefahren werden. Die dortige Friesenbrücke stellte schon vor dem zweiten Weltkrieg eine wichtige Eisenbahnverbindung zu den Niederlanden dar, während des Krieges wurde sie von Soldaten bewacht (meine Mutter besuchte zu der Zeit die Mittelschule der auf der anderen Flussseite gelegenen Stadt Weener). Nachdem die Brücke zu Ende des Krieges zerbombt war, fuhren die Kinder mit dem Fährmann Hanken über die Ems (auch dessen Haus steht nicht mehr).

Meine Mutter ging inzwischen auf die Oberschule für Mädchen, dazu kam ein Zug rückwärts bis an die Brücke heran gefahren, sammelte die Schulkinder morgens auf und brachte sie nach Leer. Wenn heute ein Ozeanreise die wieder aufgebaute Brückee passieren muss, wird der Mittelteil herausgehoben, die „Hochhäuser-Schiffe“ passen dann zentimetergenau hindurch. Doch auf den Straßen geht es noch heute sehr dörflich zu.

Kühe-Auftrieb auf einer Straße unterm Deich im ostfriesischen Westoverledingen

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Eine Antwort zu “Ausflug in die alte Heimat meiner Mutter”

  1. […] bezieht sich vor allem auf einen gemeinsamen Ausflug nach Ostfriesland, über den ich ebenfalls hier berichtet habe. Mit enthalten im Verlagsservice ist die Listung bei Amazon, wonach nunmehr – pünktlich […]

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