Englisches Wort des Jahres, Rilke, Reich-Ranicki

Rückblende auf die Wochenend-Zeitungslektüre: In der Welt am Sonntag stand auf der Medienseite die Notiz, das Oxford Dictionary habe „Unfriend“ zum Wort des Jahres gewählt. Dabei handelt es sich um den Terminus Technicus, wenn ein Nutzer des „Sozialen Netzwerkes“ Facebook einen Kontakt von seiner Freundesliste entfernt, „entfreunden“ also. Frage zur Kurzmeldung: Muss es im Akkusativ nicht „jemandem“ heißen? Dem ansonsten geschliffenen Beitrag ist nicht viel hinzuzufügen, außer vielleicht die Frage, inwieweit Social Networks überhaupt eine soziale Funktion verfolgen oder nur der digitalen Isolation Vorschub leisten?

WamS, 29.11.09: Mediennotiz Oxford Dictionary, Jahreswort

Oder ist Freundschaft auch dann nichts anderes, wenn sie nur in der Vorstellung des Gegenübers besteht? Damit zur zweiten Veröffentlichung aus derselben Zeitung, aus der Rubrik „Heute ist Sonntag“ des Publizisten Peter Bachér, betitelt „Wie Rilke mir das Schenken beibrachte„. Der Text erinnert in seinem Duktus ein wenig an Rio Reisers „König von Deutschland„, überhaupt erscheint diese Rubrik wie eine „Befindlichkeitskolumne“, seine Buchtitel wie „Besinnungsliteratur“ (wenn es das gibt).

WamS, 29.11.09, Peter Bachér: Wie Rilke mir das Schenken beibrachte

Die Geschichte: Rilke schenkt einer Bettlerin eine aufgeblühte weiße Rose, die die Beschenkte selbst aufblühen lässt. Eine Woche lang bleibt sie ihrem gewohnten Platz fern, ehe sie wieder zum Betteln erscheint. Rilkes Begleiterin, die stattdessen eher dazu neigte, ein Geldstück zu spenden, fragt, wovon die Bettlerin diese eine Woche über gelebt habe? „Von der Rose“, lautet Rilkes Antwort, dessen Maxime war: „Wir müssen ihrem Herzen etwas schenken, nicht ihrer Hand.“ Ich verehre Rainer Maria Rilke, aber diese Geschichte erinnert mich doch zu sehr an die Moral des „kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (auch wenn Rilke zeitlich davor lag). Vollends stutzig macht mich jedoch die kleine Anzeige auf der Rückseite des Druckbogens der Welt am Sonntag, in der „Das Weihnachtsgeschenk: Peter Bachér: Für Hoffnung ist es nie zu spät, 160 S., 9,95 Euro“ beworben wird.

Damit zum dritten Text, der mich beschäftigt hat, aus der Rubrik in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, „Fragen Sie Reich-Ranicki“. Besonders interessant erscheint mir die Frage nach dem Unterschied zwischen Literatur und Journalismus, weil der eigenwillige Kritiker hier einmal nicht mit seinen sehr fundierten Kenntnissen einzelne Autoren behandelt, sondern Gattungen bespricht. Abgesehen von den zweifellos bestehenden Überschneidungen (Literatur in der Zeitung, Bücher voller Journalismus) benennt er den Hauptunterschied damit, dass „Literatur auf einen doppelten Boden angewiesen“ ist, den der Journalismus nicht haben darf.

FAS, 29.11.09, Titel: Fragen Sie Reich-Ranicki

Dieser Raum, von Schmugglern in Koffern erfunden, eröffnet – übertragen auf die Literatur – die Möglichkeit, dass mehr gemeint ist als geschrieben wurde. Während Journalisten versuchen neutral zu berichten und zu objektivieren, setzen Literaten auf nur angedeutete oder verborgene, subjektive Botschaften. Reich-Ranicki bringt das Beispiel von Goethes Gedicht „Das Heidenröslein„: Blumen stehen bei Goethe häufig für Frauen, das „Röslein“ für Sexualität, „Half ihm doch kein Weh und Ach / Mußt es eben leiden“ für eine Vergewaltigung. Nach einem weiteren Beispiel („Ich ging im Walde so für mich hin“ als Beschreibung der Beziehung zu Christiane Vulpius) schließt Marcel Reich-Ranicki, dass Literatur zwar verzichtbar, eine Zeitung möglicherweise nützlicher, „aber Leben mit Literatur ungleich schöner und auch reicher“ ist.

„Bisweilen finden wir uns selber, unser Glück und unser Leiden.“, schließt er. So geht es mir bei solchen Zeitungsartikeln, oder in ganz anderer Weise, bei diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke, das 22. aus dem 1. Teil der Sonette an Orpheus von 1912:

Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.

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3 Antworten zu “Englisches Wort des Jahres, Rilke, Reich-Ranicki”

  1. papiertiger sagt:

    Danke für den interessanten Artikel, und richtig: man kündigt jemandem die Freundschaft. Das allerdings ist Dativ (wem oder was?) . . . nicht Akkusativ (wen oder was?)

    liebe Grüße von einer alten Besserwisserin 😉

  2. Jörg Benner sagt:

    Hallo Papiertiger, vielen Dank für die Korrektur. Da hab ich doch das Große Latinum mit Ach und Krach geschafft und komm noch nicht mal mit den Fällen in der eigenen Sprache klar. Ich lass das jetzt mal bewusst so stehen und schäme mich auch ein bisschen. 🙁 Mal sehen, ob das sonst noch jemandem auffällt.
    Schöne Grüße zurück, JB

  3. papiertiger sagt:

    Was muß ich mich auch aufspielen… vermutlich hätte keiner was gemerkt… wie sagt man so schön?
    Der Dativ ist dem Akkusativ sein Tod 😉

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