Mit ‘Rainer Maria Rilke’ getaggte Artikel

Das W-Wort (17) – führt zueinander

Freitag, 16. Dezember 2011

Obwohl die tradiitonelle Geschichte zum W-Wort davon spricht, es sei „mitten im kalten Winter“ gewesen, ist doch nach dem üblichen Kalender erst der 21. 12. Winteranfang. Insofern befinden wir uns jetzt noch am Ende des Herbstes. Da fällt mir Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“ ein, und besonders die Zeile: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Dem soll das Weihnachtsfest Abhilfe schaffen, entweder durch Familieninnigkeit oder anders – wenn ich einmal diese Schlagzeile umdeute.

Kölner Stadt-Anzeiger, 16.12.2011, Abenteuer zu Weihnachten

Im selbigen Artikel des Magzins des Kölner Stadt-Anzeigers geht es eigentlich um spannende Videospiele, die die Spieler in Abenteuer entführen. Man könnte das auch anders verstehen, nämlich so, dass einsame Herzen das „Fest der Liebe“ ein wenig umdeuten. Letzten Endes sind es verschiedene Arten von Kommunikation, über die ich mich gestern ausließ, die uns so oder so zusammenführen.

Das eingangs erwähnte Gedicht passt zur Stimmung des Herbstes, die wir mit dem W-Wort austreiben. Der kürzeste Tag ist eben durchlaufen, wir wenden uns dabei dem Herrn zu, um mit Heinrich Böll zu sprechen „jenem höheren Wesen, das wir verehren“, und versuchen gemeinsam die unruhige Wanderung zu beenden.

Herbsttag, von Rainer Maria Rilke

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Eine ähnliche, passende Stimmung vermittelt auch der Christmas Blues von Canned Heat mit Dr. John am Klavier, von 1968. Sehr slow, sehr bluesig und seine Zeit wert.

Englisches Wort des Jahres, Rilke, Reich-Ranicki

Dienstag, 01. Dezember 2009

Rückblende auf die Wochenend-Zeitungslektüre: In der Welt am Sonntag stand auf der Medienseite die Notiz, das Oxford Dictionary habe „Unfriend“ zum Wort des Jahres gewählt. Dabei handelt es sich um den Terminus Technicus, wenn ein Nutzer des „Sozialen Netzwerkes“ Facebook einen Kontakt von seiner Freundesliste entfernt, „entfreunden“ also. Frage zur Kurzmeldung: Muss es im Akkusativ nicht „jemandem“ heißen? Dem ansonsten geschliffenen Beitrag ist nicht viel hinzuzufügen, außer vielleicht die Frage, inwieweit Social Networks überhaupt eine soziale Funktion verfolgen oder nur der digitalen Isolation Vorschub leisten?

WamS, 29.11.09: Mediennotiz Oxford Dictionary, Jahreswort

Oder ist Freundschaft auch dann nichts anderes, wenn sie nur in der Vorstellung des Gegenübers besteht? Damit zur zweiten Veröffentlichung aus derselben Zeitung, aus der Rubrik „Heute ist Sonntag“ des Publizisten Peter Bachér, betitelt „Wie Rilke mir das Schenken beibrachte„. Der Text erinnert in seinem Duktus ein wenig an Rio Reisers „König von Deutschland„, überhaupt erscheint diese Rubrik wie eine „Befindlichkeitskolumne“, seine Buchtitel wie „Besinnungsliteratur“ (wenn es das gibt).

WamS, 29.11.09, Peter Bachér: Wie Rilke mir das Schenken beibrachte

Die Geschichte: Rilke schenkt einer Bettlerin eine aufgeblühte weiße Rose, die die Beschenkte selbst aufblühen lässt. Eine Woche lang bleibt sie ihrem gewohnten Platz fern, ehe sie wieder zum Betteln erscheint. Rilkes Begleiterin, die stattdessen eher dazu neigte, ein Geldstück zu spenden, fragt, wovon die Bettlerin diese eine Woche über gelebt habe? „Von der Rose“, lautet Rilkes Antwort, dessen Maxime war: „Wir müssen ihrem Herzen etwas schenken, nicht ihrer Hand.“ Ich verehre Rainer Maria Rilke, aber diese Geschichte erinnert mich doch zu sehr an die Moral des „kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (auch wenn Rilke zeitlich davor lag). Vollends stutzig macht mich jedoch die kleine Anzeige auf der Rückseite des Druckbogens der Welt am Sonntag, in der „Das Weihnachtsgeschenk: Peter Bachér: Für Hoffnung ist es nie zu spät, 160 S., 9,95 Euro“ beworben wird.

Damit zum dritten Text, der mich beschäftigt hat, aus der Rubrik in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, „Fragen Sie Reich-Ranicki“. Besonders interessant erscheint mir die Frage nach dem Unterschied zwischen Literatur und Journalismus, weil der eigenwillige Kritiker hier einmal nicht mit seinen sehr fundierten Kenntnissen einzelne Autoren behandelt, sondern Gattungen bespricht. Abgesehen von den zweifellos bestehenden Überschneidungen (Literatur in der Zeitung, Bücher voller Journalismus) benennt er den Hauptunterschied damit, dass „Literatur auf einen doppelten Boden angewiesen“ ist, den der Journalismus nicht haben darf.

FAS, 29.11.09, Titel: Fragen Sie Reich-Ranicki

Dieser Raum, von Schmugglern in Koffern erfunden, eröffnet – übertragen auf die Literatur – die Möglichkeit, dass mehr gemeint ist als geschrieben wurde. Während Journalisten versuchen neutral zu berichten und zu objektivieren, setzen Literaten auf nur angedeutete oder verborgene, subjektive Botschaften. Reich-Ranicki bringt das Beispiel von Goethes Gedicht „Das Heidenröslein„: Blumen stehen bei Goethe häufig für Frauen, das „Röslein“ für Sexualität, „Half ihm doch kein Weh und Ach / Mußt es eben leiden“ für eine Vergewaltigung. Nach einem weiteren Beispiel („Ich ging im Walde so für mich hin“ als Beschreibung der Beziehung zu Christiane Vulpius) schließt Marcel Reich-Ranicki, dass Literatur zwar verzichtbar, eine Zeitung möglicherweise nützlicher, „aber Leben mit Literatur ungleich schöner und auch reicher“ ist.

„Bisweilen finden wir uns selber, unser Glück und unser Leiden.“, schließt er. So geht es mir bei solchen Zeitungsartikeln, oder in ganz anderer Weise, bei diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke, das 22. aus dem 1. Teil der Sonette an Orpheus von 1912:

Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.