Aderlass-Effekt und irreführende Innensicht

Heute zwei Themen in einem, gewissermaßen als Doppelfolge der Rubrik „Klarer denken“, allwöchentlich im Montags-Feuilleton der FAZ, mit zwei ähnlich gelagerten Themen: Der hoch geschätzte Rolf Dobelli, Gründer und Kurator des Forums “Zurich.Minds”, hat sich in den beiden jüngsten Ausgaben seiner Reihe  mit den Themen des „Aderlass-Effekts“ und der Selbstbeobachtungs-Illusion befasst.

FAZ, 10.10.11, Titel: Warum Sie Ihre eigenen Überzeugungen so überzeugend finden

Falsche Überzeugungen ist argumentativ nur sehr schwer beizukommen, erläutert der Denker mit praktischen Beispielen. Der Vitamintablettenhersteller, der von Kindesbeinen an täöglich seien Vitamintabletten schluckt, ist aus seiner Sicht sicherlich zutiefst davon überzeugt, dass es die Tabletten sind, die ihm Gesundheit bescheren (vorausgesetzt, ihm geht es mit seinem Livestyle-Produkt nicht nur geschäftlich, sondern auch gesundheitlich gut).

Doch der Blick nach innen ist niemals ehrlich, wie der Autor mit dem Versuch eines schwedischen Psychologen beschreibt: Bei der Ansicht zweier Fotos sollte das attraktivere ausgewählt werden, zur näheren Erläuterung wurde den Probanden dann jedoch das falsche vorgelegt – die allermeisten Teilnehmer bemerkten das nicht und begründeten detailliert, warum ihnen das falsche Bild attraktiver vorkam.

Der im Englischen als „Introspection Illusion“ bezeichnete Denkfehler basiert auf der Vorstellung, bei einer Selbstbefragung würden wahre Ergebnisse zu Tage kommen. – Fehlanzeige! Wir sind voreingenommen von den eigenen Überzeugungen und meinen entweder, die anderen seien ignorant und wissen nicht, was wir wissen (Ignoranz-Annahme), oder wir denken, die anderen sind zu dumm um zu verstehen, was wir wissen (Idiotie-Annahme), bzw. wollen es nicht verstehen (Bosheits-Annahme). Der schlichte Hinweis kritisch gegen sich selber zu sein kann Wunder wirken, denn „Introspektion, der Blick nach innen, ist zum großen Teil Fabrikation.“

FAZ, 03.10.11, Titel: Warum wir uns von unseren falschen Ansichten so ungern trennen

Eine ganz ähnliche Verhaltensweise deckte Rolf Dobelli in der vorigen Kolumne auf, plastisch-drastisch unter dem Begriff „Aderlass-Effekt“ zusammengefasst: Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Methode des Aderlasses weit verbreitet in der Medizin, obwohl es den Patienten anschließend meist schlechter ging (sofern sie eine solche mehrmonatige Therapie überlebten). Die zu Grunde liegende „Vielsäftelehre“ des Körpers dominierte jedoch fast zweitausend Jahre lang die Medizin und wurde nicht aufgegeben, ehe sie durch eine andere, bessere Theorie ersetzt wurde.

Alle Theorien komplexer Systeme, so Rolf Dobelli, betreffen sie nun den Menschen, die Börse, Kriege, Städte, Ökosysteme oder Unternehmen, halten sich so lange, bis sie ersetzt werden, was mitunter weit länger sein kann, als es uns gut tut. Der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat demnach als erster festgestellt, dass Theorien niemals „unter dem Gewicht ihrer Fehler“ kollabieren, sondern „erst, wenn eine andere, scheinbar bessere Theorie vorhanden ist“. Bei Ansichten, heißt es weiter, gibt es kein Schwanken wie zwischen zwei Jobs, Partnern oder Wohnorten, Emotionen kennen nur richtig oder falsch.

Als sehr gutes Beispiel wird die Theorie angeführt, dass die Wirtschaft über die Geldmenge zu steuern sei. Vor dem Kongressausschuss wurde der amerikanische Notenbaker Alan Greenspan im Herbst 2008 vom Vorsitzenden befragt: „Sie realisierten also, dass ihre Sicht der Welt, Ihr Gedankenmodell falsch war?“, was der Befragte unumwunden bejahte. Doch bis heute halten die Regierungen der westlichen Welt noch immer an diesem Modell fest, „und das nur, weil keine Alternative in Sicht ist“. Dobelli rät dem Leser daher, seine Ansichten regelmäßig zu überprüfen, sofern wir „nicht ausbluten wollen“. Ebenfalls ein einfacher, doch sehr angemessener Ratschlag.

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