Die Sozialkritikerin Naomi Wolf hat in einem Gastkommentar in der Welt darauf hingewiesen, dass „Avatar“ der erste Hollywood-Blockbuster ist, der Amerika aus der Perspektive der übrigen Welt kritisch darstellt. In Verbindung mit dem unterbewussten Schuldgefühl der Amerikaner im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror (bzw. dem gegen Vietnam) stelle der Film eine „irrationale Traumarbeit“ dar, die den tatsächlichen Zustand der USA (bzw. ihres kollektiven Unterbewussten) wahrheitsgetreuer abbildet als dies jede offizielle Erklärung könnte.
Damit dürfte der Film wesentlich dazu beitragen,verdrängtes Wissen über ihre seichte nationale Mythologie zu Tage zu befördern. Während der querschnittsgelähmte, weiße Held – durch die Avatar-Technologie zu Gehversuchen in einem anderen Körper befähigt – anfangs noch ungläubig fragt: „Was bin ich, der Schurke?“, kommt er später zur Erkenntnis, dass die auf dem Planeten Pandor zur Zielscheibe gewordenen Ureinwohner zu Recht kein Interesse an der Lebensform der Menschen haben: „Wir haben nichts, was sie interessiert.“
Die Kernfrage ist für mich, ob aus dem Held im Vorgang der Transformation von einem Menschen zu einem „Na’vi“ ein anderer wird? Ändert er nur seine äußere Hülle oder ändert er damit auch seinen Charakter, sein Selbstbewusstsein? Zweifellos ändern sich mit der fiktiven Vorstellung, einen anderen Körper einzunehmen, die Selbstwahrnehmung, das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein. Der Einfachheit halber stellt sich der Held des James Cameron-Films am Ende im anderen Körper aber noch immer als derselbe Jack Skully dar. Aber gehen wir davon aus, dass er dies nicht auf Dauer bleiben könnte.
Bereits Mitte vergangener Woche hat Thomas Lindemann ebenfalls in der Welt eine Betrachtung des Avatars als „prägende Figur der Popkultur“ vorgenommen. Der Verlust des Ichs wird in der Umschreibung Siegmund Freuds zitiert als „nicht mehr Herr im eigenen Haus“ zu sein. Dabei suggerierten Filme wie „Avatar“ und „Surrogates„, ein anderer sein zu können. Nichts anderes geschieht bei online Rollenspielen von „Second Life“ bis „World of Warcraft“ – vorübergehend spielerisch ein anderer zu sein. Die genannten Filme (ähnlich in „Matrix“) warten allerdings mit der Visison eines lebensumfassenden, auf künstlichen Zweitkörpern basierenden Systems auf. Das Andere im Film „Avatar“: die Welt der Außerirdischen ist die bessere, das Leben im Avatar ist in der Fiktion objektiv zu bevorzugen. Den Unterschied zu den vergleichsweise stumpfen Video- und Onlinespielen mache das „Ringen um Identifikation und Erlösung“ aus. Mit dem Avatar-Prinzip verbunden sei jedoch die Angst, „dass es in uns selbst eigentlich leer und tot sein könnte – wie in einem abgeschalteten Avatar“.
Schade, dass die kleine Abhandlung von Thomas Lindemann das im Titel zitierte Wort Adornos nicht thematisiert. Die berühmte Aussage „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ behandelt im Umfeld ihres Erscheinens die Möglichkeit der moralischen Ausrichtung des menschlichen Handelns (Theodor W. Adorno: Minimalia Moralia I, 18, Gesammelte Schriften, Band 4, S. 19). Eine Auslegung könnte davon ausgehen, dass das Leben in seiner Gänze falsch ist (eine Deutung, die der destruktiven Grundhaltung Adornos angesichts einer vom Massenmord der Nationalsozialisten überschatteten Moderne nahekommt), dann aber bliebe demgemäß kein Ausweg, richtig zu handeln (im Sinne einer Generalentschuldigung für jedes Vergehen). Die Bedeutung, die viele Autonome dem Satz zukommen lassen, in einem falschen System dennoch ein richtiges (politisch angemessenes) Leben zu führen, entspricht dennoch nicht Adornos Intention in der 18. (von 153) Miniaturen, bezeichnet „Asyl für Obdachlose“.
Er schrieb zwar andernorts vom Totaliären der Aufklärung, dem Hang des Rationalen zur Beherrschung und Unterdrückung und von der verwalteten Welt, dennoch geht es darum, in der fremden Behausung (der Entfremdung) den Sinn für die Angemessenheit dieses Asyls zu erkennen. Bewusste Entfremdung vom Kindheitsideal der heilen Welt erscheint demnach als einzig richtige und moralisch vertretbare Reaktion auf die Grausamkeit der Vernunft, des Totalitären, der Shoah. Das Leben unbeeindruckt vom eigenen schlechten Gewissen fortführen zu wollen, als hätten Massenvernichtungen nicht stattgefunden, das ist hier das falsche Leben, in dem es kein richtiges Leben geben kann.
Damit scheint Adorno zugleich eine verblendete Grundhaltung ausschließen zu wollen, um sich überhaupt die Möglichkeit für richtiges Tun offen halten zu können. Allerdings – um einerseits auf das Prinzip „Avatar“ zurück zu kommen – erweist sich das Leben in einem fremden Körper als eine deutliche Entfremdung gegenüber dem ursprünglichen (natürlichen) Menschsein, und – um andererseits auf den gleichnamigen Film zurückzukommen – erweist sich der „Umzug“ in den Avatar-Körper vor dem Hintergund eines erwachten Unrechtsbewusstseins als die Flucht nach vorne in ein (idealisiertes) „richtiges Leben“.
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