Archiv für die Kategorie ‘Journalismus’

Wochenend-Presseschau 01-10

Montag, 04. Januar 2010

„Da bin ich wieder“ – „Der Prothesenmensch“. Wie viele andere Zeitungen bringen FAZ und NZZ in ihrem Feuilleton einen Rückblick auf das abgelaufene Jahr, beziehungsweise auf die vergangenen zehn Jahre. Auch wenn Thomas Schmid im Editorial der Welt am Sonntag behauptet, dass die Dekade noch nicht vorbei sei (ich habe nicht verstanden, warum das Jahrzehnt erst am 01.01.2001 begonnen haben soll), können wir auf die „Nullerjahre“ zurück blicken.

NZZ, 02.01.10, Titel: Der Prothesenmensch

Roman Bucheli betrachtet im Feuilleton der NZZ die vergangenen zehn Jahre als eine Epoche der digitalen Revolution. Einer möglichen Schreckensbilanz angesichts neuer Terrordimensionen stellt er den „digital turn“ gegenüber. Die Veränderung der Lebenswirklichkeit ist allgegenwärtig: Wir machen uns abhängig von immer kleineren und leistungsfähigeren Geräten. Dabei stellte erst das Jahr 2000-Problem eine Bedrohung dar, dann platzte die Dotcom-Blase, doch tatsächlich hat sich in nur zehn Jahren sehr viel getan: „Wir hatten Ende der neunziger Jahre gerade das Wort >>surfen<< in den Grundwortschatz übernommen; heute googeln, twittern, downloaden, skypen oder bloggen wir auf Teufel komm raus.“ Die dazu verwendeten Techniken und Geräte betrachtet er offenbar als geistige Prothesen.

Zur Schlussfolgerung ist es dann nicht weit: Mit allen Interaktionen im World wide web mache sich der „Prothesenmensch“ als User zum gläsernen Menschen, „als Preis für den fast grenzenlosen Zugang zum Weltwissen“. Als Hoffnung zeigt sich dem Autor dabei der Verdacht, ebenso wie der einzelne Benutzer von der Informationsfülle oft überfordert scheint, könne das Netz selber dabei überfordert sein, die Einblicke in die Nutzerprofile in klingende Münze umzuwandeln. Immerhin, führt er an, waren nicht einmal die amerikanischen Geheimdienste dazu in der Lage, zwei Datenbanken abzugleichen, um einem Verdächtigen aus Nigeria die Einreise in die USA zu verweigern.

Allerdings verteidigt Roman Bucheli Kulturkritiker, auch wenn sie weithin als „Spielverderber“ oder „wirkungslose Bremser“ gälten: „Doch ihre Einwürfe sind Widerhaken kritischen Denkens“. Gemeinsam mit Umberto Eco (vor einigen Wochen in „le Monde“) betrachtet er es als offene Frage, ob durch das Internet das Verständnis zwischen den Kulturen oder der Identitätsverlust befördert würde. Zuletzt bezeichnet er es dann aber doch als „Treten an Ort“, schweizerisch für „auf der Stelle Treten“.

FAZ, 02.01.10, Titel: Da bin ich wieder

Sehr schön gefällt mir die Idee und Ausführung der FAZ, auf einer Feuilletonseite drei Geschichten von Comebacks nebeneinander zu stellen. Verena Lueken berichtet über die Wiederkehr von Mickey Rourke auf die Kinoleinwände, Rainer Hank über einen namenlosen Investmentbanker, der als „Master of the Universe“ tituliert wurde, seinen Ruf ruiniert hat, aber wieder blendende Geschäfte macht, Christian Eichler schließlich über Jupp Heinkes, nach zwei Jahren ohne Trainerjob erst zum Feuerwehrmann beim FC Bayern München und daraufhin zum Erfolgsbringer für Bayer 04 Leverkusen geworden. Das Thema des Zurückkommens wird in drei voneinander unabhängigen Beispielen durchgespielt und zeigt damit die Vielschichtigkeit eines solchen Phänomens auf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, doch mit viel Stoff zum Nachdenken. Sehr sympathisch!

Zeitfragen in der Welt am Sonntag

Sonntag, 03. Januar 2010

„Was ist Zeit?“ fragte Udo Jürgens in der Zeichentrickserie „Es war einmal der Mensch“, die Rolling Stones verbreiteten die Gewissheit „Time is on my side“. Die Zeit hat ein flüchtiges Wesen – gemäß dem alten Witz der Frage nach Uhrzeit: „Das kann ich dir nicht sagen, es wird immer später“. Unabhängig von so wenig reflektierten Allgemeinplätzen thematisiert die Welt am Sonntag ausführlich das moderne wirtschaftliche Problem des Zeitmanagements, im Zusammenhang mit steter Erreichbarkeit und Spam-Flut.

WamS, 03.01.10, Titel: Stoppt die Zeitdiebe

Die Überschrift des Kommentars von Olaf Gersemann erinnert etwas an Michael Endes „Momo“ und die darin vorkommenden Grauen Herren der Zeitbank, die uns unseres Lebens berauben. Das Problem der Massenmails wird etwas aufgebauscht, um den Titel des Wirtschaftsteils anzukündigen: „Der Fluch der steten Erreichbarkeit„. Die Conclusio des Kommentators: Die Gesetzgebung muss klarere und empfängerfreundlichere Regeln für den elektronischen Postverkehr festschreiben.

WamS, 03.01.10, Titel: Die Kunst der Entschleunigung

Auch André Mielke, der regelmäßig auf Seite 1 der Welt am Sonntag seine Glose „Mielke murrt“ verfasst, widmet sich einem Aspekt der E-Mail-Kommunikation, dem für dieses Jahr angekündigten Online-Brief der Deutschen Post. Er skizziert das Zustellprinzip als den Versand eines Mail-Ausdrucks, der andernorts wieder eingescannt und dann per E-Mail verschickt wird. Neben dem Schmunzler über diese Vorstellung bleiben für mich drei Frage bestehen, erstens: Muss das Entfernen der unerwünschten Mails wirklich ein Zehntel der Arbeitszeit einnehmen? Ich bezweifle das, zum einen da sich ihre Zahl durch einige Kniffe deutlich reduzieren lässt, zum anderen da ihr Löschen unmittelbar nach dem Erfassen der Betreffzeile nur eine Sekunde in Anspruch nimmt.

Noch wichtiger jedoch, zweitens: Muss das Prinzip der steten Erreichbarkeit und der steten Leistungsbereitschaft wirklich notwendig Besitz von uns ergreifen? Auch hier gibt es verschiedene Techniken, dies zu verhindern: Handy ausschalten, sich am Wochenende zum Beispiel nicht an den PC setzen, aber vor allem: Prioritäten setzen (vgl. hierzu „Das Warten als Geschenk betrachten„). Und zuletzt, drittens: Was ist denn nun die Zeit?

Der Beantwortungsversuch von Udo Jürgens aus der Trickfilmserie klingt fast wie ein Abgesang auf den Menschen:

Dagegen könnte das moderne Momo-Märchen mit Einschränkung sogar dazu geeignet sein, ein bisschen Mut zu machen:

Verschuldungs- ohne Verschwörungstheorie

Samstag, 02. Januar 2010

Interesanter Neujahrsaufmacher im Wirtschaftsteil des Kölner Stadt-Anzeigers: „Wem gehört Deutschland?“ fragt Peter Hahne in Hinblick auf die neue Rekordverschuldung des Bundes, denn: siehe Untertitel:

Kölner Stadt-Anzeiger, 02.01.10, Titel: Wem gehört Deutschland?

Die Story liest sich spannend wie eine Kriminalgeschichte, die es mit Einschränkungen auch sein dürfte. Denn – soweit möglich von den politischen Notwendigkeiten einmal abgesehen – grenzt es nicht an ein Verbrechen, die Staatsverschuldung pro Sekunde um mehr als 4.000 Euro anwachsen zu lassen? Das bedeutet aktuell eine Pro-Kopf-Belastung (inklusive aller Babies und Senioren) von mehr als 20.000 Euro (vgl. aktuelle Angaben). Wer diese Staatverschudlung einmal zurück zahlen sollte? Dazu gibt es keine ehrliche Antwort, außer „die nachfolgenden Generationen“.

Die Ergebnisse der Recherche lauten zusammengefasst: Eine „Bundesrepublik Deutschland-Finanzagentur“ in Frankfurt am Main managt die Geldgeschäfte des Bundes, um z.B. für 2010 die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble durchgesetzte Neuverschudlung von 357 Milliarden Euro zur refinanzieren. Die Eigentümer- und Schuldnerstruktur des Staates ist jedoch nicht bekannt. Peter Hahne hat nur in Erfahrung gebracht, dass im Prinzip jeder Bundesobligationen kaufen kann und dafür in einem Schuldbuchkonto vermerkt wird. Zudem präsentiert er die Zahlen der Bundesbank, dass aktuell Papiere für etwa 700 Milliarden Euro im Inland liegen (davon 400 Milliarden bei Geldinstituten und 300 Milliarden bei anderen Unternehmen), dazu Papiere für weitere 900 Milliarden Euro im Ausland.

Die Schlussfolgerung: die Banken profitieren von diesen sicheren Staatsanleihen, indem sie etwa für ein Prozent Geld bei der Notenbank leihen und es in diese Bundesobligationen investieren, die ein paar Prozent mehr abwerfen. Wohlgemerkt auf Kosten des Steuerzahlers. Diesen Aspekt greift auch Jörg Wagner im Kommentar in derselben Zeitung auf: diese langweiligen, aber sicheren Geschäfte ersetzen aktuell (in einem gewissen Umfang für eine gewisse Zeit) die hochspekulativen, die zuletzt zur Bankenkrise geführt hatten. Damit, so Jörg Wagner, profitierten die Banken zwar stärker als Privatanleger, aber zumindest bänden sie ihre Mittel in sicherere Anlageklassen.

Ansicht des Berliner Reichstagsgebäudes

Das eigentlich Erschreckende – weitab von Verschwörungstheorien, wem Deutschland denn gehöre, etwa den Illuminaten oder der Hochfinanz (sic!) –  ist der Gedanke, dass Deutschland  „Dem Deutschen Volke“ gehören sollte, gemäß der Inschrift auf dem Berliner Reichstagsgebäude, und dass dieser Sachverhalt nunmehr umgedreht ist: Die Deutschen gehören dem Staat, indem dieser sie samt Nachfahren mit stetig steigender Pro-Kopf-Verschuldung in die vernachlässigte Verantwortung nimmt.

Einen guten Start ins Neue Jahr!

Donnerstag, 31. Dezember 2009

Gutes Gelingen bei allen Unternehmungen im Neuen Jahr und im neuen Jahrzehnt! Was interessieren wir uns dafür, wie andere Leute feiern, wenn wir selber in vorzüglicher Feierlaune sind? Vielleicht insofern, als die eigene Feier grundsätzlich die beste sein sollte! Am nächsten Morgen dürfte das Interesse jedoch weitaus geringer sein, wenn uns das Feuerwerk noch in den Ohren summt oder evtl. doch der Restalkohol macht, dass und der Schädel brummt.

KStA, 30.12.2009, Titel Silvesterfestbräuche

Der Kölner Stadt-Anzeiger hat jedenfalls an zwei aufeinander folgenden Tagen unterschielsdiche Neujahrsbräuche thematisiert, zunächst am 30.12. im Reiseteil „Fünf Bräuche aus anderen Ländern“ (obiger Ausschnitt, nachfolgende Links von der Zeitung empfohlen). Hierbei zeigt sich, dass Silvester in China auf den 13. Februar fällt, nach iranischem Kalender wird erst Mitte März zum Frühlingsanfang Neujahr gefeiert, in Thailand fallen die Neujahrsfeiertage auf den 13. bis 15. April, nach dem jüdischen Kalender ist Neujahr in Israel zwischen September und Oktober. Und in Club „Purga“ in St. Petersburg wird jede Nacht nach Mitternacht ein anderes Neujahr nachgefeiert.

KStA, 31.12.2009, Titel Silvesterfestbräuche

Am Silvestertag thematisiert der Kölner Stadt-Anzeiger dann auf S. 2 „Wie andere Länder rund um den Globus das Silvesterfest begehen“. Demnach wird in Griechenland gezockt, in Russland zehn Tage am Stück gefeiert (Wobei Väterchen Frost erst zum 1.1. den Kindern Geschenke bringt), während in Italien rote Unterwäsche zum „Rutsch ins Neue Jahr“ gehört. Während in Großbritannien mit der Ausnahme des großen Feuerwerkes am Londoner Riesenrad wenig geböllert wird, sind hier die Argentinier bei sommerlichen Temperaturen die Vorreiter.

Hierzulande setzen wir eher auf Parties mit Essen, Trinken, Musik hören oder Fernsehen. Was auch immer jeder einzelne getan haben mag, möge er sich gut erholen und frisch gestärkt ins Neue Jahr starten!

Wochenend-Presseschau 53-09

Montag, 28. Dezember 2009

Was für ein Wochenende! Das war mehr als das: eine gefühlte ganze, sicher jedenfalls eine halbe Feierwoche! Zwei Tage lang gab es gar keine Zeitung, das ist aller Achtung wert, zwar kein Grund zum Feiern, aberdas kommt sonst nicht vor. Was stand dann in den Zeitungen? Nach allerlei mehr oder weniger bedenkenswerten Abhandlungen über Weihnachten folgten jede Menge Rück- und Vorschauen. Der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen bringt es in der Welt am Sonntag auf den Punkt:

WamS, 27.12.2009, Titel: Nächstes Jahr ist auch noch ein Tag

 Rein inhaltlich bertachtet unterscheidet sich der pointiert geschirebene Text jedoch nicht sonderlich von den in derselben Ausgabe obligatorisch ebenfalls vertretenenen Tipps gegen den Kater. Weitaus interessanter fand ich dagegen in derselben Zeitung die Frage: „Wozu sind nostalgische Erinnerungen gut?“, die Pia Heinemann auf der letzten Seite des Stils-Teils, betitelt „Zwischen Menschen“ stellt.

WamS, 27.12.2009, Titel: Ach ja, die gute alte Zeit

Nostalgie, führt sie Sozialpsychologen folgend aus, unterscheidet sich von Sehnsucht durch ihre sentimentale Note. In früheren Forschungen wurde diesem Empfinden Traurigkeit und Einsamkeit zugeordnet. Gleichzeitig erschienen Befragten weit häufiger solche Sequenzen nostalgisch, in denen sie als Hauptpersonen zusammen mit anderen etwas Negatives bewältigten, anstatt dass sich das Geschehen verschlimmert hätte. Das Phänomen der „guten, alten Zeit“ gebe es rund um den Globus. Allerdings – jetzt kommt die Neuigkeit! – erforschten Psychologen an der Uni Southampton, dass Nostalgie vor schlechter Laune bewahren, evtl. sogar zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden kann.

FAZ, 24.12.2009, Titel: Denn sie haben sonst keinen Raum in der Volkssprache

Ganz andere Probleme erwägt Joseph Hanimann in der FAZ vom 24.12.2009: „Denn sie haben sonst keinen Raum in der Volkssprache“ behandelt den „Verlegenheitsbegriff“ der auch „Schattenmenschen“ genannten „Clandestins“ oder „Clandestinos“. Vor dem Hintergrund der Debatte um nationale Identität etwa in Frankreich arbeitet er den Unterschied zwischen dem vielfach als Gefährdung wahrgenommenen Fremden (z.B. Minarette) und dagegen dem unsichtbaren Fremden (illegale Migranten). Laut OECD-Schätzung liegt die Dunkelziffer der Clandestins in der EU bei etwa 7 Millionen.

Der französische Begriff (wie in „commerce clandestin“ – Schwarz-markt, und „passager clandestin“ – blinder Passagier) betone das gewollte, persönliche Abtauchen. Entsprechend würden die Migranten viel schneller als in Deutschland und ohne langen Verfahrensweg abgeschoben. Abschließend zitiert der Autor die Historikerin Annette Wieviorka, wonach die Geschichte zum ideologischen Vorratslager geworden sei. Die Schattenmenschen jedoch hätten als mündige Subjekte eine bessere Behandlung als in Frankreich und nicht zuletzt auch eine bessere Bezeichnung verdient. Allerdings setzt der Artikel die Hintergründe und Bedingungen als bekannt voraus und versäumt darauf hinzuweisen, warum diese mündigen Menschen aus Verzweiflung ihre Heimat verlassen.

The Spirit of Christmas 2009, Part 23

Mittwoch, 23. Dezember 2009

Noch einmal schlafen… Die Aufregung steigt! Nachdem die weißen Tage nun weitgehend vorbei sind, freuen wir uns auch auf eine grüne Weihnacht, die die FAZ am Dienstag – allerdings aus Anlass des ökologischen Bewusstseins im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest – thematisiert hat.

FAZ, 22.12.2009, Titel: Grüner die Glocken nie klingen

Dem Beitrag von Henrike Roßbach zufolge spielen diese Gesichtpunkte durchaus eine Rolle, sei es beim Kauf des Christbaums (in Berlin werden die gesammelten Weihnachtsbäume nach dem Fest zu 2.700 Tonnen Holzhackschnitzel verarbeitet und in Heizkraftwerken verbrannt), sei es beim Spielzeug-, aber auch beim Essenskauf (angeblich wird hierbei nicht gespart, warum also nicht gleich regionales Biofleisch ?), sei es bei den obligatorischen Fahrten nach Hause (die Zugfahrt produziert am wenigsten CO2, noch vor dem Autoausstoß liegt der Vergleichswert von Flugreisen).

KStA. 23.12.2009, Titel: Driving home for Christmas

 Im Reiseteil des heutigen Kölner Stadt-Anzeigers beschäftigt sich Clemens Niedenthal mit der „ritualisierten Reise“, die fast jeder zweite Deutsche zu Weihnachten antritt (laut Europcar-Studie). Er bewertet dies als umso erstaunlicher, als „die Solidarität der Sippe längst passé“ ist. Allerdings würden sich „die Lebensweisen der Enkel wieder mit denen der Großeltern“ versöhnen, zudem stehe das Heimkommen für eine in der Moderne ansonsten oft abhanden gekommene Heimat. Insofern sei das Ertragen der Staus auf den Autobahnen und der gedrängten Enge in den Zugabteilen ein Beweis dafür, dass viele Menschen das Richtige tun.

KStA, 19.12.2009, Titel: Hoffen auf die späten Käufer

Am Bestimmungsort angekommen fällt dann vielen auf, dass sie noch etwas einkaufen müssen. Darauf hofft der Handel, da sich das Weihanchtsgeschäft angeblich immer weiter in Richtung Festtage verschiebt, wie Jörg Wagner im Kölner Stadt-Anzeiger vom Diensttag unter Berufung auf den Hauptverband des Deutschen Einzelhandels feststellt. Zeit darüber nachzudenken, was ich denn noch benötige, habe ich ja meist genug, während der von Chris Rea klassisch beschriebenen Fahrt nach Hause.

Wochenend-Presseschau 52-09

Dienstag, 22. Dezember 2009

Wenn das mal keine schöne Finte ist: Eine neue Serie mit der laufenden Nummer 52 zu starten. Dabei kann es sich folglich nur um den Bezug zur laufenden Kalenderwoche handeln. In Erinnerung geblieben von der Zeitungslektüre am Wochenende ist mir allen voran die Besprechung der dreier DVD-Box „Abécédaire – Gilles Deleuze von A bis Z“ von Cord Riechman in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter dem Mut machenden Titel:

FAS, 20.12.2009, Titel: Denken macht gute Laune

Schon die Besprechung macht mit Grundzügen des „einstigen Theoriepopstars“ bekannt, vom „Tier-Werden“ („Animal“) als das auch sprachliche an eine Grenze Gehen über die Kindheit („Enfance“), „auf eine charmante und uneitle Weise der Schlüssel zu seinem Denken“ bis hin zu Wunsch („Désir“, mit dem sperrigen Begriff der „Wunschmaschine“), als Verweis „auf seinen fabrikartigen Charakter“ herausgenommen „aus dem provatistischen, familialen Gefüge“. Sehr sympathisch, dass der 1995 verstorbene Philosoph, sich selbst für die posthum geplante Veröffentlichung als „reinen Geist“ bezeichnet, der „nicht besonders tiefsinnig sei“. Ebenfalls sympathisch die Aussage, dass es „zu viel Kommunikation und zu wenig Schöpferisches in der Welt gebe“, weshalb er den auf Versammlungen diskutierenden Jürgen Habermas und den in Interviews stets glänzenden Umberto Eco nicht mochte. „Das Testament des Philosophen“ in 26 Buchstaben, in mehr als sieben Stunden Länge, produziert von der Jouranlistin Clarei Parnet.

FAZ, 19.12.2009, Titel: Das ist unsere Leidenschaft

Ebenfalls sympathisch und hochinteresssant zugleich die ganzseitige Selbstdarstellung im Feuilleton der AZ vom vergangenen Samstag: „Redakteure des Feuilletons erklären ihre Ressorts“. Jürgen Kaube erläutert das Spannende der Geisteswissenschaften anhand Lessings Theatertheorie (Wir fühlen nur mit, wenn wir uns in die Schauspieler hineinversetzen können.), Felicitas von Lovenberg die Begeisterung für Literatur mit der Wirkkraft von Büchern auf ihr Privatleben. Verständnishalber sei erwähnt, dass der gesamte Feuilletonteil als Experiment angelegt war, Jugendliche mit Künstlern und Wissenschaftlern zusammenzubringen. Auch die dabei entstandnen Dialoge haben viel Aufmerksamkeit verdient. Stattdessen sei noch kurz erwähnt der Beitrag aus der Süddeutschen Zeitung vom vergangenen Freitag:

SZ,18.12.2009, Titel: Die Welt braucht viel, aber keine Jury

Dabei geht es um die Anfänge des noch heute Standards setzenden Jugendsenders „Radio One“ der BBC, der seit seiner Gründung 1967 auch einige Male sensationell daneben lag: „Led Zeppelin „nur eine Kopie“, Marc Bolan „prätentiöse Scheiße“, David Bowie „amateurhaft“: Die BBC gesteht, wie ihre Pop-Experten von 1969 an überaus grandiose Fehlurteile abgaben.“ Der Beitrag von Wolfgang Koydl zeugt von der Größe eines Senders, der zu seinen menschlichen Schwächen steht, und er zeugt auch von Humor, wenn in der Bildunterschrift zu lesen ist: „David Bowie, in den 1970ern. Das Urteil: Mangel an Persönlichkeit. Man muss sagen, dass er dann noch das Beste daraus gemacht hat.“ Daneben ist alleridngs auch der Titel sehr lustig, der eine klare Kritik an allen möglichen TV-Castingsows darstellt, ohne dies jedoch zu thematisieren.

Die tägliche Arbeit des Philosophen

Sonntag, 20. Dezember 2009

„Es gibt vermehrt einen Typus von relativ verantwortungslosen Intellektuellen, und darin vermag ich noch nicht einmal eine persönliche Schuld zu erkennen“, erklärt der Philosoph Axel Honneth im Gespräch mit Michael Hesse im Kölner Stadt-Anzeiger vom vergangenen Donnerstag. Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit dem provokanten Philosophen Peter Sloterdijk über die Grundlagen des Sozialstaates (Texthilfe hatte das Thema schon einmal beiläufig aufgegriffen).

Kölner Stadt-Anzeiger, 17.12.2009, Titel Honneth-Interview

Darin bezeichnet er Sloterdijks Forderung, die Sozialleistungen des Staates auf Spendenbasis zu finanzieren, als „an den Haaren herbeigezogen“ und unvernünftig. Er konstatiert dem Kontrahenten „keine Spur von Einsicht in die soziale Interdependenz, in die Auswirkungen schwer kontrollierbarerer Wirtschaftsvorgänge, kurz, in die gemeinsam zu übernehmende Verantwortung für das Schicksal jedes Einzelnen.“ An späterer Stelle erläutert er weiter: „In einem Streich all das destruieren zu wollen, was wir in 150 Jahren moralischer Kämpfe in modernen Gesellschaften notdürftig etabliert haben, um die Notleidenden und Gestrauchelten von ihrer beschämenden Hoffnung auf großzügige Gaben von oben zu befreien, halte ich für obszön.“

Auch, wenn der Adressat hier sicher widersprechen würde, setzt Honneth seine Überlegungen fort in Hinblick auf „Mechanismen in der kulturellen Öffentlichkeit“ und auf die Frage, „welche Rolle die Philosophie in der demokratischen Kultur sinnvoll übernehmen kann“. Die erste Antwort lautet: „Wenn die Philosophie gar keine begrifflichen Anstrengungen mehr unternimmt, ihre Argumente diskursiv zu klären und plausibel zu machen, ist es um sie traurig bestellt.“ Die zweite: „Der Wert von Äußerungen wird immer stärker an ihrem Neuigkeits-, Überraschungs- und Provokationswert bemessen, immer weniger an der sachlichen Originalität. (…) Unsere Aufgabe als akademisch tätige Philosophen ist es, dort, wo durch diesen Strukturwandel wirklicher Unsinn erzeugt wird, das Wort zu ergreifen.“

Während meines Studiums an der Uni Konstanz habe ich von Philosophie-Professoren das ermutigende Wort gehört: „Der Philosoph hat immer zu tun.“ Die tägliche Arbeit betrifft genau die Auseinandersetzung mit nachlässigen Redeweisen, mit unzutreffenden Schlussfolgerungen oder wie es Axel Honneth sagt, mit der diskursiven, begrifflichen Klärung von Argumenten.

The Spirit of Christmas 2009, Part 20

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Pastewka, Poschardt, Ringelnatz – Kölner Stadt-Anzeiger, WamS und FAS mit extremen Positionen. Der Kölner Stadt-Anzeiger bringt an diesem Mittwoch auf der Medienseite ein Interview mit dem Schauspieler und Komiker Bastian Pastewka, dessen Überschrift vom eigentlichen Thema abweicht (das TV-Programm an Heilig Abend) und sich im Interview nicht wieder findet. Der stellvertretende Chefredakteur der Welt am Sonntag Ulf Poschardt beschreibt einen Mentalitätswandel, der sich gleichzeitig als Rückbesinnung auf das Selbstsein erweist. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hingegen überzeugt mich mit dem Abdruck des Joachim Ringelnatz-Gedichtes „Weihnachten“.

ksta.de, 16.12.09, Titel: Weihnachten ist bescheuert

Ausgehend von der Deutschtümelei der Volksmusikanten (die der Interviewte gemeinsam mit Anke Engelke hervorragend persifliert) beschreibt Bastian Pastewka die „Choreographie der Gebräuche“ zu Weihnachten als „sehr deutsch und sehr eigenartig“. Dabei hat sich – das eigentliche Thema des Gesprächs – das Fernsehen längst als fester Faktor in dieser Choreographie etabliert, beginnend bereits vor dreißig Jahren mit dem Klassiker „Wir warten aufs Christkind“ über heutige Volksmusik-Standards (die mir persönlich weitgehend unbekannt sind, da  ich mir das nicht antun kann) bis hin zu den bereits benannten Weihnachtsfilmen.

WamS, 13.12.09, Titel: Advent als kostbare Chance auf Besinnung

Ulf Poschardt plädiert in seinem Leitartikel für „Lebens- und Arbeitstechniken aus dem Mutterland des gut gelaunten Kapitalismus, den USA“, sprich: Handy aus, für die Familie da sein, „seine Anwesenheit und Aufmerksamkeit verschenken“. Ausgangspunkt seiner Analyse ist der ausgeprägte Fleiß der Deutschen vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, der vor 20 Jahren erreichten Wiedervereinigung und der bereits in der DDR begonnenen „Sakralisierung des Atheistischen“ „Der Advent“, schreibt er, „bewährt sich abseits christlicher Bräuche als wichtiger Ritus.“ Ganz abseits der christlichen Bräuche kann ich diese Zeit der Erwartung aber nicht begreifen. Den Sinn alleine aus einem Gegenstück zum gesellschaftlichen Tempo zu begreifen, wird dem Weihnachtsfest meiner Meinung nicht gerecht.

Da lobe ich mir das Gedicht, das die FAS im Rahmen ihrer Frankfurter Anthologie abdruckt. Ohne auf die dortige Interpretation einzugehen, wird dabei doch eines klar: Weihnachten ist ein Fest der Kindheit, das durch ein Abschneiden von seiner christlichen Herkunft seine Bedeutung verlöre.

Joachim Ringelnatz

Weihnachten

Liebeläutend zieht durch Kerzenhelle,
Mild, wie Wälderduft, die Weihnachtszeit,
Und ein schlichtes Glück streut auf die Schwelle
Schöne Blumen der Vergangenheit.

Hand schmiegt sich an Hand im engen Kreise,
Und das alte Lied von Gott und Christ
Bebt durch Seelen und verkündet leise,
Daß die kleine Welt die größte ist.

Schweizer Minarettverbot aus deutscher Sicht

Mittwoch, 09. Dezember 2009

Verschiedene Kommentatoren bescheinigen dem deutschen Medienecho „ausgeblendete Realität“ und ein „Nachwirken der nationalsozialistischen Geschichte“. Bereits am 3. Dezember lieferte die Neue Zürcher Zeitung zuverlässig hochwertige Beiträge zum Thema: „Die Deutschen und das Minarett“ des Berliner Kommunikationsberaters und Moderators Hans-Hermann Tiedje sowie „Vom Glauben zum Wissen“ von Hamed Abdel-Samad, Politik-wissenschaftler und Historiker an der Uni München. Der Gastautor Tiedje konstatiert, „Medienverteter und Durchschnittsbürger leben beim Thema Islam in getrennten Welten.“  

NZZ, 03.12.09, Titel: Die Deutschen und das Minarett

Seine Diagnose: Multikulti scheitert in Deutschland. Die Skepsis gegenüber Muslimen und Moscheen sei vor allem genährt durch das Treffen der Massenmörder vom 11. September 2001 in Gebetsräumen in Hamburg. „Teile der Publizistik“ schließt er, seien „zu ungetrübten Denkprozessen nicht imstande aufgrund der immer noch schwer lastenden Schatten von Hitlers Untaten“. In die gleiche Richtung tendiert auch Heribert Seifert in der NZZ vom 8. Dezember: „Aufklärer, Schönredner und Prediger“: „Offenkundig wirkt hier die nationalsozialistische Geschichte nach und führt zu einer spezifischen Verzerrung bei der Wahrnehmung des Integrationsproblems.“ Weiter stellt er in Hinblick auf deutsche Leitartikler fest: „Der penetrant vormundschaftliche Auftritt, das unsichere Schwanken zwischen offener Information und schönfärbender Camouflage haben beim Publikum zu lebhaftem Widerspruch geführt.“ Nachzulesen in den Leserkommentaren auf den Websites der Zeitungen und in Blogs.

NZZ, 03.12.09, Titel: Vom Glauben zum Wissen

Der gebürtige Ägypter Abdel-Samad liefert handfeste Argumente für die Ursachen des Integrationsproblems: Alles Neue werde im orthodoxen Islam negativ gesehen. Ein Anschluss an die Moderne sei in der vorherrschenden islamischen Welt daher nicht gewollt, zusätzlich genährt durch ein spätestens seit Napoleons Ankern vor Alexandrien historisch verwurzeltes „Gefühl der Ohnmacht und Demütigung, das die islamische Welt gegenüber Europa empfindet“. Alle „Erneuerungswellen brachen am Fels der Orthodoxie“, formuliert er. Als noch entscheidender bewertet er die dem Islam eigene „archaische Kultur der Ehre und des Widerstands“, die nicht verkraftet habe, dass sie die führende Rolle in der Welt längst verloren hat.

Sehr interessant in diesem Zusammenhang der kulturhistorische Ausflug von Christian Seebaum am 8. Dezember in Scala auf WDR5, wonach es einerseits kaum moderne Moscheen gibt, andererseits Kuppelbauten und Minarette erst nach der Eroberung Konstantinopels entstanden seien, als die Sophienkirche Hagia Sophia in eine Moschee umverwandelt wurde, während christliche Gotteshäuser ihrerseits sich aus römischen Markthallen entwickelt haben. Der Autor fragt: „Aber eine wirklich moderne Lösung für einen Sakralbau – geht das überhaupt? Steht die Moderne doch für Aufklärung, Demokratie, Rationalität und kritisches Hinterfragen, währen Religion, gleich welcher Richtung, vor allem auf der Sehnsucht nach letzten Wahrheiten begründet ist.“

Die Welt, 03.12.09, Titel: "Der Islam verletzt die Rechte der Frauen"

In der Welt vom 3. Dezember erläutert die Schweizer Feministin Julia Onken im Interview, warum sie für das Minarettverbot in der Schweiz gestimmt hat. Es sei unredlich, dagegen zu stimmen, nur weil die Initiative von Rechtspopulisten stamme: „Das Minarett ist ein politisches Symbol für eine Rechtsordnung, in der Frauenrechte nicht vorkommen, und somit ein Zeichen für staatliche Akzeptanz der Unterdrückung der Frau.“ Dennoch zeigt sie sich „erschüttert“, dass die Vorlage angenommen wurde: „Aber trotzdem bedeutet die Abstimmung nur eins: Halt! Die Integration erreicht die Basis nicht. Viele Frauen dürfen nur verschleiert aus dem Haus, können kaum Deutsch, haben keinen Zugang zu Wissen. Das ist eine eklatante Verletzung der Frauenrechte, die kann man nicht über Religionsfreiheit stellen, genauso wenig wie Zwangsheirat, Ehrenmord, Genitalverstümmelung.“ Eine Argumentation, der ich mich schwerlich entziehen kann.

FAZ, _05.12.09_Irrationalität_Verfassungsrang

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss hat recht, wenn er in der FAZ vom 05. Dezember schreibt: „Das Minarettverbot löst nicht das kleinste Problem, hingegen schafft es auf einer institutionellen Ebene ein ziemlich großes, und kein Staatsrechtler kann sagen, wie es gelöst wird.“ Allerdings erscheint auch hierfür der Erklärungsversuch von Julia Onken plausibel: „Es ist bedauerlich wenn Stellvertreter-Diskussionen geführt werden müssen, aber das geschieht immer dann, wenn die wahren Gründe erstickt werden.“