Mit ‘Lera Boroditsky’ getaggte Artikel

Streit ums „Bewusstseins-Huhn und -Ei“

Montag, 19. April 2010

Die Süddeutsche Zeitung hat im Feuilleton am vergangenen Freitag einen fast ganzseitigen Forschungsbericht der Psychologin und Neurowissenschaftlerin Lera Boroditsky veröffentlicht, übersetzt von Sebastian Vogel. Er stammt aus dem Band im S. Fischer-Verlag „Die Zukunftsmacher – Die Nobelpreisträger von morgen verraten, worüber sie forschen.“, herausgegeben von Max Brockman.

Am Eingang des hochspannenden Textes wird mein erster Gedanke reflektiert: Kann die Sprache überhaupt das Denken prägen, wenn es doch fraglos in Sprache stattfindet? Ist es daher nicht eher so, dass das Denken die Sprache prägt? Möglicherweise spielt das Denken unter verschiedenen Sprechern derselben Sprache eine erhebliche Rolle hinsichtlich ihrer Sprachauswahl und -gestaltung, aber die Unterschiede im Denken verschiedensprachiger Völker erklärt vorrangig doch nur eines: Ihre jeweilige Sprache. Insofern stattgegeben und eingetaucht:

Süddeutsche Zeitung, 16.04.2010, Titel: Wie prägt die Sprache unser Denken?

Anhand zahlreicher lebendiger Beispiele aus dem spannenden Alltag linguitisch-empirihscer Untersuchungen verdeutlicht Lera Boroditsky, dass Sprachen unterschiedliche Anforderungen an ihre Sprecher stellen, um aus verschiedenen Aspekten heraus denselben Sachverhalt unterschiedlich darzustellen. Aboriginees benutzen zur Bezeichnung räumlicher Verhältnisse anstatt links und rechts einen absoluten Bezugsrahmen (sind sich also stets der Himmelsrichtungen gewahr). Dies zeigte sich bei ihnen auch bei der Durchführung eiens Versuchs, aufeianderfolgende Bildkarten in der richtigen Reihenfolge zu ordnen: Sie legen sie stets von Ost nach West, abhängig davon, in welche Richtung sie dabei sitzen und blicken.

Das bedeutet, dass die räumliche Orintierung auch Zeitvorstellungen betrifft, ebenso wie die von Zahlen, Musik, Verwandtschaftsverhältnissen, Ethik und Gefühlen. Im Mandarin spricht man nicht vom nächsten Monat als vom dem, der „vor uns liegt“, sondern vom „unteren Monat“. Dies Raumvorstellung ist also eher vertikal als horizontal bestimmt. Aber selbst innerhalb Europas weichen viele Vorstellungen und Begrifflichkeiten voneinander ab: Während im Englischen und im Deutschen ein Gespräch „kurz“ oder „lang“ ist, ist es im Spanischen und im Griechischen eher „viel“, „groß“ oder „klein“.

Um festzustellen, ob die Unterschiede im Denken von der Sprache oder eher von der Lebensweise der Sprecher abhängen, haben die Forscher an der Stanford University und am Massachusetts Institute of Technology Englischsprechern wie im Griechischen Mengenmetaphern zur Beschreibung von Zeiträumen oder wie im Mandarin vertikale Metaphern zur Darstellung von Reihenfolgen beigebracht. In der Folge glichen sich die Kognitionsleistungen (die mentalen Prozesse) denen der Griechisch- und Mandarin-Sprecher an. Ergo: Wer eine Sprache lernt, lernt auch eine neue Art zu denken.

Weitere Unterschiede zwischen Sprachen betreffen zum Beispiel die Anzahl und Verwandtschaft von Farbwörtern, die Anzahl und Anwednung von grammtikalischen Geschlechtern (bis zu 16 verschiedene bei manchen australischen Ureinwohnern). Aber auch hier wird deutlich, wenn etwa ein Spanier und ein Deutscher eine Brücke beschreiben, so erhält der Gegenstand männliche Attribute im Spanischen, wo er männlich ist, und weibliche im Deutschen, wo er weiblich ist. Im Russischen dagegen muss ich in einem Satz „Mein Stuhl war alt“ alle Wörter aus Stuhl auf das Geschlecht anpassen. Die Gegenstände erhalten von Russissch-Sprechern noch weit ausgeprägtere typisierte Attribute. Da alle Substantive ein grammatikalisches Geschlecht aufweisen, stellt dieser Umstand doch eine erhebliche Prägung unseres Denkens, jedenfalls unserer Kognition dar.

Die Forschungen zeigen insgesamt, so schließt die Wissenschaftlerin, dass linguistische Prozesse für die meisten Bereiche unseres Denkens von grundlegender Bedeutung sind. Somit habe die Sprache tiefgreifende Auswirkungen auf unser Denken, unsere Weltsicht und unsere Lebensführung. Dennoch bin ich nicht letztlich überzeugt. Zweifellos wächst jeder Muttersprachler in einem eigenen Sprach- und Kulturraum auf. Teil jeder Kultur ist, die Dinge soundso wahrzunehmen, zu bezeichnen und sich über sie zu äußern. Denn Sprechen ist nichts anders als der „Bewusstseinsakt“, Gedanken zu äußern. Insofern gleicht die Frage, ob das Denken die Sprache beeinflusst oder die Sprache das Denken, ein bisschen der Frage nach dem Huhn und dem Ei.