Mit ‘Überzeugungsarbeit’ getaggte Artikel

Nachrichtenregeln auf dem Prüfstand

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Der Beitrag „Morgenwelt 54: Journalismus im Wandel“ von Thomas Euler auf www.pr-blogger.de hat mich zum engagierten Plädoyer des britischen Journalisten Dan Gillmor für neue Regeln des praktischen Journalismus auf guardian.co.uk gebracht. Der Autor führt 22 mehr oder weniger lose verknüpfte Ideen auf, wie der Alltag an „fauler und fantasieloser“ Berichterstattung zu beheben wäre. Die Beurteilungen der Leser schwanken zwischen „gelungenes journalistisches Manifest“ und „Wolkenkuckucksheim“.

Die Liste der 22 Ideen für Nachrichten lässt sich verstehen als Vorschläge für eine stärkere Lesereinbindung, einen stärkeren Lesernutzen und hauptsächlich für einen „aufklärerischeren“ Journalismus.  Diese Ideen sollte jeder Journalist, der sein Geld wert ist, sehr sorgsam durchsehen, bevor er sie bricht, schreibt ein Kommentator. Denn jeder Journalist, der sein Geld wert ist, breche gelegentlich die Regeln.

Die Regeln in Kurzform:

  1. Keine Jahrestage thematisieren (Anlass seiner Liste war die Berichterstattung zum ersten Jahrestag des Bankrotts der Investmentbank Lehmann-Brothers).
  2. Einbeziehen der Leserschaft in den Nachrichtenfluss über die neuen Medien (mit Vergütungsmodell).
  3. Eine Infobox mit „Dingen, die wir nicht wissen“, verbunden mit der Aufforderung an die Leser zum Verständnis beizutragen (gemäß Modell unter Punkt 2).
  4. Newsletter-Service über Fehler, die das eigene Medium begangen hat.
  5. Ausweiten der Meinungsseite bei Print und online, neben Höflichkeitsregeln sollten auch nur echte Namen gelten.
  6. Keine Umschreibung unschöner Sachverhalte (eine Lüge ist eine Lüge).
  7. Kein Orwell’sches Vokabular/PR-Sprache (Gillmors Vorschlag euphemistische oder inkorrekte Zitate zu vermeiden und umzuschreiben stößt auf die Kritik besser beides zu bringen, das Zitat und die Bloßstellung).
  8. Verlinken, was zu verlinken ist – auch zu relevanten, die Diskussion bereichernden Mitbewerbern.
  9. Ein frei zugängliches Archiv mit umfangreichen Suchfunktionen anbieten.
  10. Community-Mitglieder von passiven Konsumenten zu informierten Mediennutzern erziehen (in Zusammenarbeit mit Schulen und anderen Institutionen).
  11. Niemals Top-Ten-Listen veröffentlichen.
  12. So gut wie niemals unbenannte Quellen zitieren.
  13. Falls ausnahmsweise Anonymität zugesichert wurde und die Darstellung sich als Lüge entpuppt, die Quelle enttarnen (solche Fälle auch bei Wettbewerbern aufdecken).
  14. Das Wort in Leitartikeln, dass ein Politiker etwas tun „muss“, vermeiden und stattdessen glaubhafte Überzeugungsarbeit leisten.
  15. Regelmäßige Verweise auf die Arbeit der Konkurrenz und von Bloggern (siehe Punkt 8).
  16. Errungenschaften der Konkurrenz hervorheben – je lobenswerter sie ist, desto ausführlicher (anstatt sie wie heute totzuschweigen), für mehr Glaubhaftigkeit.
  17. An wichtigen Themen gemäß der Überzeugung der Redaktion unnachgiebig dranbleiben (wie etwa der Immobilien-Blase, siehe Punkt 1).
  18. Einen Ansatzpunkt für jedes wichtige, über einen längeren Zeitraum verfolgte Thema schaffen, ein Basis-Artikel oder -Video als Einstieg und Zusammenfassung.
  19. Hinweise, wenn aus Neuigkeiten konkret sich Handlungen ableiten lassen, Infoboxen „Was Sie tun können“.
  20. Konsequent offen legen, wer hinter welchen Worten und Taten steckt. Über Versäumnisse aufklären, bei Mitbewerbern, aber auch im eigenen Haus (siehe Punkt 2).
  21. Davon absehen, aus seltsamen oder tragischen Einzelfallberichten eine größere Gefahr hochzurechnen. Ernsthafte gegenüber statistisch weniger bedrohlichen Risiken regelmäßig diskutieren.
  22. Auf Meinungsbeiträge von Top-Politikern und Wirtschaftbossen verzichten, da sie nie von ihnen selbst stammen.

Der Artikel vom 3. Oktober hat während dreier Tage eine rege Diskussion mit mehr als 100 Kommentaren auf der Guardian-Homepage ausgelöst. Darin findet sich vorwiegend Zustimmung zu einzelnen Punkten. Allerdings wird auch kritisiert, dass Journalisten in der neutralen Berichterstattung vor allem nüchtern und fantasielos sein sollten. Auch heißt es darin, Nachrichten werden von den Journalisten nicht erzeugt, sondern lediglich berichtet. Ein anderer Kommentator fragt, ob man ihnen nicht alles andere vorwerfen könnte, als dass sie faul seien? Vielmehr treibe sie die reelle Medienlandschaft im Umbruch dazu, aufgrund fehlender Zeit und personeller Unterstützung an den Schreibtisch gefesselt zu sein.

Zudem klingt in einigen Rückmeldungen der Umstand an, dass Verlage dazu gezwungen sind, Gewinne zu erwirtschaften und sich daher das meiste nicht leicht umsetzen ließe. Viele regionale Zeitungsverlagshäuser hätten exakt einige der Punkte schon ausprobiert, ist weiter zu lesen. Die meisten Leser seien daran aber doch nicht interessiert. Das Einbeziehen der Leserschaft kann (ohne Qualitätskontrolle) zu einer unmittelbaren Verschlechterung der Nachrichtenlage führen. Andererseits verleitet auch der wachsende Zeitdruck vermehrt zum Fehlerteufel und zum selteneren Hinterfragen diverser Formulierungen und Hintergründe. Zuletzt sei der Zweifel erlaubt, ob der Auftrag von Journalisten über die Berichterstattung hinaus Überzeugungsarbeit einbegreift.