Mit ‘Martin Seel’ getaggte Artikel

Überblick ist Illusion, Umsicht ist Pflicht

Donnerstag, 26. November 2009

Die 37. Römerberggespräche drehten sich im Frankfurter Schauspielhaus um die „Krise des Überblicks„. „Illusionen des Überblicks“ hieß der Eröffnungsvortrag des Philosophen Martin Seel, in dem er statt dieser für ein philosophisches Denken warb, das wie eine „Kamerafahrt vom Panoramabild mitten ins menschliche Getümmel“ verläuft. So zitiert ihn Thorsten Gräbe im Feuilleton der FAZ am vergangenen Montag (online nicht verfügbar).

Screenshot der Aktuell-Seite von www.roemerberggespraeche-ffm.de

Matthias Arning stellte in der Frankfurter Rundschau bereits vor den Gesprächen nicht nur Martin Seel, sondern auch Harald Welzer vor, Sozialpsychologe am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und Dozent an der Privatuni Witten-Herdecke, der unter anderem die Studie „Opa war kein Nazi“ geschrieben hat. Ihm zufolge geht es – ob in Bezug auf den Solidaritätspakt oder auf den Klimawandel – darum, bisher Bewährtes, mittlerweile aber Chancenloses zu ersetzen (sein neues Buch, zusammen mit Klaus Leggewie heißt: „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“). Er war denn gemäß Rudolf Walther auch der einzige, der die „Grenzen des Systems“ nicht im Kapitalismus, sondern im Klima verortete.

Harald Welzer hat nach Angabe von Thorsten Gräbe sein Publikum kritisiert: „Sie applaudieren immer zu schnell“, und warf den vorrangig über sechszigjährigen Zuhörern vor, kritischen Äußerungen vor allem deshalb Applaus zu spenden, um eine einfache Schuldzuweisung vorzunehmen. Weitere Redner sprachen das Publikum direkt an, Thorsten Gräbe bezeichnet es als „mit den Römerberggesprächen gealtert, jüngere Gesichter waren kaum zu sehen.“ Damit kommt er noch einmal auf Harald Welzer zurück, der von einer „Desynchronisation“ zwischen den Generationen sprach. Die konstatierte Generationenungerechtigkeit, während gegenwärtig das Funktionieren unserer Welt simuliert werde, bekamen daher nur wenige jüngere Menschen mit, die an diesem Zustand möglicherweise etwas ändern könnten. Auch die Berichterstattung über die zweifellos hochinteressanten Gespräche blieb vergleichsweise gering.

FAZ, 23.11.2009, Überschrift des Beitrags von Thorsten Gräbe

Rudolf Walther bezeichnet im Feuilleton der Frankfurter Rundschau am vergangenen Montag die diesjährige Themenwahl als besonders gelungen, denn sie hat “ Berufsgruppen zum Thema gemacht, die sich wie keine anderen blamiert haben in der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise – die Ökonomen, Wirtschaftsexperten, Prognostiker und Analysten“. Auch er greift den Einführungsvortrag von Martin Seel auf, wonach menschliches Handeln immer Alternativen und Risiken birgt und daher durch Umsicht, Bescheidenheit und Selbstreflexion bestimmt sein sollte.

„Das Gelegenheitsfenster, das die Krise geöffnet habe, sei nicht genutzt worden“, zitiert Thorsten Gräbe in der FAZ Harald Welzer. Ebenso wenig wurde die Chance zur Öffentlichkeitsarbeit genutzt, auf die vorrangig ökonomischen Themen, unter anderem zu Stichwörtern wie „Homogenisierung der tonangebenden Eliten“, in Abhängigkeit davon sinkende Realisierungschancen von Prognosen, die momentane „Selbstzerstörung der Wirtschaft“, „kriminell zu nennendes Fehlverhalten der Banken“, „Kontrolldefizite aufgrund von Politikversagen“ (Rudolf Walther in der Frankfurter Rundschau).

So die Pointe im Vortrag  von Martin Hellwig, Mitglied im Lenkungsrat, der die staatlichen Mittel zur Rettung privater Banken und Betriebe verteilt, dass es „Banken bei vielen Regulierungsvorschriften gelungen ist, den Behörden ihre eigenen Vorstellungen als die „richtigen“ und „praktikablen“ einzureden“. Diese und andere Erkenntnisse hätten nach meinem Dafürhalten im Sinne der „Umsicht, Bescheidenheit und Selbstreflexion“ auf jeden Fall weitaus mehr öffentliche Resonanz verdient. Dies ist mein bescheidener Beitrag dazu.

Philosophie, aus der Höhle auf die Fähre

Freitag, 06. November 2009

Neulich von einer 12.-Klässlerin befragt: „Worum geht’s eigentlich in der Philosophie?“, fiel mir die Antwort schwer. Dabei hab ich das gesamte Gebiet als ein Hauptfach studiert und abgeschlossen. Natürlich geht es im engeren Sinn um die „Freundschaft zur Weisheit“. Dann sind mir die bekannten drei großen Fragen nach Kant eingefallen: „Was soll ich tun (praktische Philosophie, Ethik)? Was darf ich hoffen (Sinnsuche in Anbetracht von Tod, im Zusammenhang mit Religion und Gesellschaftsutopien)? Was kann ich wissen (Erkenntnistheorie)?“

Zum ersten Punkt ist gleich Kants gerne zitierter Kategorischer Imperativ aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zur Hand: „Handle immer nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird!“ Zum zweiten ist mir kein gängiger Einstiegstext geläufig. In der Beschäftigung mit Kant ist das Gegensatzpaar von Erkennen und dem Wissen zu Glauben und dem Geheimnis ein möglicher Zugang. Praktische Postulate sind der Glaube an die unsterbliche Seele, an die Existenz Gottes oder an den freien Willen. Darüber lässt sich trefflich streiten, ohne zu einem festen Wissen, aber doch zu einer festen Überzeugung zu gelangen.

Zum dritten Punkt fällt mir Platons Höhlengleichnis im Buch „Politeia“ ein, das Gespräch zwischen Sokrates und Glaukon, oft einer der ersten Texte in einer Philosophie-AG oder einem Grundkurs. Der Weg zur Erkenntnis ist beschwerlich und beginnt damit, die Dinge zu hinterfragen und den Blickwinkel zu ändern. Zuerst sehen Menschen in einer Höhle nur Schatten an der Wand, dann sehen sie die Dinge selbst, anschließend gelangen sie nach draußen und beginnen im zunächst schmerzenden Sonnenlicht Dinge wahrzunehmen. Die wahre Erkenntnis wäre nach Platon die „Idee des Guten“ im „Reich der Ideen“.  – Schließlich nicht zu vergessen, dass daran sich noch die vierte Frage anschloss: „Was ist der Mensch“, deren Antwort aus der Beschäftigung mit den drei vorgenannten sich ergeben kann.

Das Andere Ihrer selbst

Wir können auch bereits im Internet  ganze Bücher dazu lesen. Dann aber sah ich im Feuilletonteil der Neuen Züricher Zeitung vom vergangenen Samstag den Artikel „Über die Liebe zur Weisheit und andere Zustände – Über das geheimnis der Philosophie“. Darin behandelt Uwe Justus Wenzel drei Neuerscheinungen philosophischer Bücher: „Einführung in die Anti-Philospohie“ von Boris Groys im Verlag Carl Hanser, „Das Mich der Wahrnehmung“ von Lambert Wiesing im Suhrkamp-Verlag sowie „Theorien“ von Martin Seel im Verlag S. Fischer.

Spannend bereits der Einstieg, „Philosophie ist aus auf Nicht-Philosophie“, streng genommen. Denn sie strebt nach Weisheit und damit erstrebt sie etwas jenseits ihrer selbst Liegendes, ein „Anderes der Philosophie“. Lebensnah und lustig die Vergleiche von Uwe Justus Wenzel, dass es sich hierbei ebenso um Seelenruhe wie Revolution handeln könnte, um die Vereinigung mit einer Gottheit ebenso wie die mit  der Wissenschaft, oder aber auch um Politikberatung und die Ethikkommission. Sein Ausgangspunkt: „In sich selbst“ (durch Diskurs und Textarbeit) sich dem „Anderen ihrer selbst“ zu verschreiben, macht sie allenfalls zur „Anti-Philosophie“, nicht aber zur „Nicht-Philosophie“. Klar, so weit?

Anti-Philosophie auf der Fähre

Daraufhin wendet er sich den genannten Büchern zu und urteilt, Boris Groys, mit seiner Behauptung einer antiphilosophischen Wende seit Marx und Kierkegaard liege falsch, wenn er meine, philosophische Texte würden „zu Anweisungen für einen Leser, der aufgerufen wird zu handeln statt zu denken.“ Lambert Wiesing hingegen würde ein Programm eines Philosophierens ohne Hypothesen andeuten. Entsprechende Schriften gäben demnach dem Leser die Anweisung, die Erkenntnis des Schreibenden „aus eigener Kraft nachzuvollziehen“ Um Wenzels Anspruch einer „Anti-Philosophie“ gerecht zu werden (stets auf der Grenze, nach „dem Anderen ihrer selbst“ zu streben, ohne dies aber je erreichen zu können), könnte das Denken dabei eine Erfahrung machen, die selbst eine Wirklichkeit ist.

Schließlich rekurriert er auf Seels neues Buch, in dem in einem kurzen „Denkstück“ von Fähren in manchen Weltgegenden die Rede ist, auf denen der Passagier mit einem gelösten Ticket so oft hin und her fahren darf, bis er die Fähre verlässt. Vermutlich wäre in diesem Bild die Philosophie jedoch weder das Ticket (als, so Wenzel,  „Lizenz zur Kontemplation“) noch die Person (als, so Wenzel „rationale Mystikerin“), sondern – so mein Vorschlag, die Fähre selbst, die uns, laut Seel „für geringe Kosten bleiben lässt, wo wir sind, aber in einer Bewegung, die uns dahin mitnimmt, wohin wir früher oder später zurückkehren müssen.“

Ob wir dahin zurückkehren müssen, weiß ich nicht, möglicherweise im Sinne der abgeschlossenen Reflektion. Aber zum Feuilleton der NZZ werde ich als Alternative zu dem der Süddeutschen und der FAZ gerne wieder zurückkehren.