Archiv für den 01. Dezember 2009

Englisches Wort des Jahres, Rilke, Reich-Ranicki

Dienstag, 01. Dezember 2009

Rückblende auf die Wochenend-Zeitungslektüre: In der Welt am Sonntag stand auf der Medienseite die Notiz, das Oxford Dictionary habe „Unfriend“ zum Wort des Jahres gewählt. Dabei handelt es sich um den Terminus Technicus, wenn ein Nutzer des „Sozialen Netzwerkes“ Facebook einen Kontakt von seiner Freundesliste entfernt, „entfreunden“ also. Frage zur Kurzmeldung: Muss es im Akkusativ nicht „jemandem“ heißen? Dem ansonsten geschliffenen Beitrag ist nicht viel hinzuzufügen, außer vielleicht die Frage, inwieweit Social Networks überhaupt eine soziale Funktion verfolgen oder nur der digitalen Isolation Vorschub leisten?

WamS, 29.11.09: Mediennotiz Oxford Dictionary, Jahreswort

Oder ist Freundschaft auch dann nichts anderes, wenn sie nur in der Vorstellung des Gegenübers besteht? Damit zur zweiten Veröffentlichung aus derselben Zeitung, aus der Rubrik „Heute ist Sonntag“ des Publizisten Peter Bachér, betitelt „Wie Rilke mir das Schenken beibrachte„. Der Text erinnert in seinem Duktus ein wenig an Rio Reisers „König von Deutschland„, überhaupt erscheint diese Rubrik wie eine „Befindlichkeitskolumne“, seine Buchtitel wie „Besinnungsliteratur“ (wenn es das gibt).

WamS, 29.11.09, Peter Bachér: Wie Rilke mir das Schenken beibrachte

Die Geschichte: Rilke schenkt einer Bettlerin eine aufgeblühte weiße Rose, die die Beschenkte selbst aufblühen lässt. Eine Woche lang bleibt sie ihrem gewohnten Platz fern, ehe sie wieder zum Betteln erscheint. Rilkes Begleiterin, die stattdessen eher dazu neigte, ein Geldstück zu spenden, fragt, wovon die Bettlerin diese eine Woche über gelebt habe? „Von der Rose“, lautet Rilkes Antwort, dessen Maxime war: „Wir müssen ihrem Herzen etwas schenken, nicht ihrer Hand.“ Ich verehre Rainer Maria Rilke, aber diese Geschichte erinnert mich doch zu sehr an die Moral des „kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (auch wenn Rilke zeitlich davor lag). Vollends stutzig macht mich jedoch die kleine Anzeige auf der Rückseite des Druckbogens der Welt am Sonntag, in der „Das Weihnachtsgeschenk: Peter Bachér: Für Hoffnung ist es nie zu spät, 160 S., 9,95 Euro“ beworben wird.

Damit zum dritten Text, der mich beschäftigt hat, aus der Rubrik in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, „Fragen Sie Reich-Ranicki“. Besonders interessant erscheint mir die Frage nach dem Unterschied zwischen Literatur und Journalismus, weil der eigenwillige Kritiker hier einmal nicht mit seinen sehr fundierten Kenntnissen einzelne Autoren behandelt, sondern Gattungen bespricht. Abgesehen von den zweifellos bestehenden Überschneidungen (Literatur in der Zeitung, Bücher voller Journalismus) benennt er den Hauptunterschied damit, dass „Literatur auf einen doppelten Boden angewiesen“ ist, den der Journalismus nicht haben darf.

FAS, 29.11.09, Titel: Fragen Sie Reich-Ranicki

Dieser Raum, von Schmugglern in Koffern erfunden, eröffnet – übertragen auf die Literatur – die Möglichkeit, dass mehr gemeint ist als geschrieben wurde. Während Journalisten versuchen neutral zu berichten und zu objektivieren, setzen Literaten auf nur angedeutete oder verborgene, subjektive Botschaften. Reich-Ranicki bringt das Beispiel von Goethes Gedicht „Das Heidenröslein„: Blumen stehen bei Goethe häufig für Frauen, das „Röslein“ für Sexualität, „Half ihm doch kein Weh und Ach / Mußt es eben leiden“ für eine Vergewaltigung. Nach einem weiteren Beispiel („Ich ging im Walde so für mich hin“ als Beschreibung der Beziehung zu Christiane Vulpius) schließt Marcel Reich-Ranicki, dass Literatur zwar verzichtbar, eine Zeitung möglicherweise nützlicher, „aber Leben mit Literatur ungleich schöner und auch reicher“ ist.

„Bisweilen finden wir uns selber, unser Glück und unser Leiden.“, schließt er. So geht es mir bei solchen Zeitungsartikeln, oder in ganz anderer Weise, bei diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke, das 22. aus dem 1. Teil der Sonette an Orpheus von 1912:

Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.

The Spirit of Christmas 2009, Part 10

Dienstag, 01. Dezember 2009

24 Türchen, und was dahinter steckt… – Der Refrain des Kinderliedes von Rolf Zuckowski verbirgt außer der Frage nach der Herkunft des Brauches vom Adventskalender auch die Frage nach der gesellschaftlichen – oder auch wirtschaftlichen – Relevanz des Brauches.

FAS, 29.11.09, Titel des Spezials: 24 Geschenke

In der Sonntags-FAZ werden (ähnlich wie bereits zuvor im Kölner Stadtanzeiger, texthilfe.de berichtete) daher Geschenke-Tipps gegeben („Und wer jetzt meint, dass das alles ein konsumistischer Wahnsinn sei, der mit dem Sinn des Weihnachtsfestes so wenig zu tun habem, wie mit der Freude daran, anderen eine Freude zu machen, dem sagen wir: Stimmt ganz genau!“), augenzwinkernd immerhin. Auch die Welt am Sonntag konstatiert im NRW-Teil über der bedeutungsschwangeren Überschrift: „Erst eins, dann zwei…„: „Für den Einzelhandel beginnen jetzt die wichtigsten Wochen des Jahres.“ Guido Hartmann hat dabei jedoch eine spezielle Käufergruppe im Visier: „Vor allem über die zahlreichen Weihnachtsmärkte sollen ausländische Gäste in die Stadt gelockt werden. Die meisten kommen aus den Niederlanden.“ Mit „der Stadt“ ist hier die Landeshauptstadt gemeint – das gilt jedoch für viele anderen NRW-Städte ebenso.

WamS, 29.11.09, Titel im NRW-Teil: Erst eins, dann zwei...

Die Überraschung dann aber doch im Magazin des heutigen Kölner Stadt-Anzeigers. Während der Aufmacher lautet „Falten, schneiden, kleben – Ideen für die Vorweihnachtszeit. Kinder basteln für die ganze Familie“, kommt auf Seite 5 das Interview mit dem Philosophie-Professor Peter Heintel von der Universität Klagenfurt auf den Punkt: „Das Warten als Geschenk sehen“ (noch nicht online). Während das am Sonntag begonnene Kirchenjahr gleich zu Beginn auf die bevorstehende Ankunft des Herrn wartet und diese feiert, leben Kinder, so Heintel, „in einer Dauererwartung. Als Erwachsene empfinden wir das Warten dagegen als etwas Unangenehmes“.

Kölner Stadt-Anzeiger Magazin, 01.12.09, Titel: Das Warten als Geschenk sehen

Der Professor hat unter anderem deswegen bereits 1990 einen „Verein zur Verzögerung der Zeit“ gegründet. Mittlerweile mehr als 1.000 Mitglieder „streben neue Formen des Umgangs mit der Zeit an“, ebenso gegen blinden Aktionismus wie vermutlich auch gegen Konsumismus gerichtet. Der Verein wendet sich gegen die reduzierte Sichtweise der Zeit „nur noch als Messgröße für Arbeit und Leistung“. Dabei geht es gerade in der Vorweihnachtszeit auch darum, Zeit verstreichen zu lassen, beim Warten (möglicherweise auch unangenehme) Gedanken zuzulassen, sprich das Warten als Geschenk aufzufassen. Als Instrument der Selbsterziehung empfiehlt Peter Heintel, über einen Monat ein Zeittagebuch zu führen.

Am Weihnachtstag selbst bin ich, wie viele andere Kinder meiner Generation und danach, oft vor der Fernsehsendung „Wir warten aufs Christkind“ gesessen. Das ist zwar keine vorbildliche, aber eine bezeichnende Übung. Mit selbst kommt es in diesem Jahr genau so vor, als würde ich die Weihnachtszeit als eine Zeit zum Innehalten wenn nicht benötigen, dann aber doch sehr begrüßen. Zeit zur Reflektion zu haben, zur Standortbestimmung und zum Denken an andere. Vielleicht ein anderer Aspekt des Christuswortes aus dem Matthäus-Evangelium „Werdet wie die Kinder“. Daher an dieser Stelle unvermeidlich nun auch das eingangs erwähnte Kinderlied von Rolf Zuckowski „Kleine Kinder, große Kinder“.