Archiv für die Kategorie ‘Psychologie’

Durch die Tür – und vergessen!

Montag, 21. November 2011

Das haben schon viele erlebt: Gerade bin ich aus dem Zimmer gegangen, um etwas zu erledigen – und – schwupps! – ist der Gedanke fort. Was wollte ich noch mal? „Wenn’s anfängt, fängt’s im Kopf an!“, pflegt meine Mutter da zu sagen. Aber interessant ist das Phänomen auf jeden Fall. Während Jim Morrison und Konsorten mittels bewusstseinserweiternder Substanzen ihre „Türen der Wahrnehmung“ öffnen wollten und ihre Band infolge „The Doors“ nannten, schließt sich hier die Tür der Erinnerung, kaum dass wir eine Schwelle überschreiten.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.11.11: Tückische Tür

Im Quarterly Journal of Experimental Psychology berichtet Gabriel Radvansky von der US University of Notre Dame von einem Versuch, bei dem Probanden damit beauftragt wurden, einen Gegenstand zu holen. Bei gleicher zurückzulegender Distanz vergaßen deutlich mehr Teilnehmer, was sie wollten, wenn sie dabei eine Türschwelle passieren mussten. Der Gang durch einen Türrahmen, so die Schlussfolgerung des Forschers, befördert eine gewisse Art der Vergesslichkeit, die allerdings nicht weiter bedenklich ist.

Nun ist eine Tür ja ein sehr bedeutungsgeladenes Symbol. Die Tür steht dafür etwas hinter sich zu lassen, einen neuen Raum zu betreten, ins Freie oder ins Geschützte zu gehen. Sie steht für einen Neuanfang und für neue Erfahrungen oder Sinneswahrnehmungen. Die Tür ist die „andere Seite“, das „Draußen“ oder das Unbekannte – wenn ich nur an „Alice im Wunderland“ denke. Wir treten ein in eine neue Welt, in ein unbekanntes Land, eine terra incognita oder in ein Paralleluniversum, in das wir durch eine quasi magische Tür portiert werden.

Wer an Wiedergeburten glaubt, stellt sich vielleicht vor durch eine Tür in ein anderes Leben zu gelangen. Die Erinnerung an das alte ist da schnell verloschen. Aber so weit wollten wir ja gar nicht gehen. Immerhin ist klar, dass das Leben erst ein abgeschlossenes ist, wenn wir durch diese Tür gegangen sind und „auf der anderen Seite“ angekommen sind, die wir per definition bis dahin nicht kennen konnten. Möglicherweise verhält sich ja alles auch ganz anders 😉 Bis wir es wissen können, werden wir vermutlich nichts mehr wissen. Immerhin können wir uns auf neue Erfahrungen und neue Lebensabschnitte vorbereiten, indem wir mantraartig wiederholen: „Tritt durch die Tür! – Überschreite die Schwelle! – Übersteige den Stein!“

Zur Auflösung der wilden Assoziation ein Musikstück der Doors aus dem Ende der 1960er Jahre „Light my fire“.

Gedanken sichtbar und hörbar machen

Freitag, 11. November 2011

Das ist schon eine seltsame Gedankenschüssel, unser Gehirn – mit nussartigem Aussehen, gedeckelt von einem Schädel, deer uns oft dicker vorkommt als er ist. Die verletztliche Gedankenzentrale eines aufrecht gehenden Lebewesenes auf der Erde. Sehr bemerkenswert! Wenig erstaunlich, dass diese Spezies sich auch dieses Organs bedient, um es zu entschlüsseln. Dabei ist es nicht näher bestimmten Forschern jetzt gelungen, über den Kernspintomografen Gedanken als ein Video abzuspielen.

Kölner Stadt-Anzeiger, 07.11.2011, Titel:  Woran denke ich gerade?

Dr. Magnus Heier berichtet in seiner Kolumne im Magazin des Kölner Stadt-Anzeigers „Aus der Praxis“ darüber, dass Bild für Bild „eine Korrelation zwischen den gezeigten Filmen und den Hirnreaktionen“ aufgezeichnet werden kann. Anschließend wurde ein Computer mit sehr vielen weiteren Videos gefüttert, um die dazugehörigen Hirnbilder annähernd vorherzubestimmen.

Beim nächsten Mal, als Freiwillige im Kernspin wieder einen Film sahen, wurden der dabei entstehende „Gedanken-Film“ mit den errechnten Hirnbildern aus dem Computer abgeglichen, sodass daraus (im Umkehrschluss) wieder ein zeigbarer Videofilm wurde. Und tatsächlich: Der so erstellte Videofilm hatte, wie es heißt, eine „gespenstische Ähnlichkeit“ mit dem ursprünglich dem Kandidaten im Kernspin gezeigten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, so prognostiziert der Autor, dass sich die Forscher nicht mehr nur auf die Sehtrinde beschränken und vielleicht auch mal die Tätigkeiten des Sprachzentrums hörbar machen. Die Freiheit der Gedanken erscheint in echter Gefahr. Durch den Fortschritt der Wissenschaft verlieren vielleicht andere Gedankenleser, Telepathen und hellsichtige Menschen den Nimbus des Unerklärlichen. Vielleicht fürht uns eine solche Offenlegung ja zu ganz neuen Fähigkeiten des Gehirns, dessen Kapazität wir doch sowieso nur zu – wieviel waren es noch mal ? – etwa 15 Prozent ausnutzen!

Weißt Du noch, wie es damals roch?

Samstag, 22. Oktober 2011

Erinnerungen sind beileibe nicht nur bildlich oder sprachlich, sondern häufig auch olfaktorisch, was sich vor allem in der Weihnachtszeit immer wieder feststellen lässt. Auch Katholiken ist der Geruch des Weihrauches sicherlich eine unverrückbare „Größe“ beim Gedanken an den Kirchgang. In einer online Veröffentlichung der Public Library of Science hat Marije Oostindjer von der Universität in Wageningen darauf hingewiesen, dass vertraute Gerüche Ferkel bei der Entwöhnung von der Muttersau beruhigen und besser gedeihen lassen.

Süddeutsche Zeitung, 20.10.2011, Titel: Mamas Duft

Nun wird der Vergleich zwischen Kirchgängern und den vom Muttertier getrennten Ferkeln sicher manche stören. Doch in bdein Fällen scheint es sich um eine olfaktorische Reminiszenz zu handeln, die einmal als beruhigend erlernt immer wieder beruhigend wirkt. Zitiert wird dort Thomas Hartge, der bestätigt, dass autobiografische Erfarhungen keineswegs nur linguistisch strukturiert sind. Zur Beruhigung: Bei Tieren, denen jede Art der Begrifflichkeit fehlt, sind Erfahrungen überhaupt nicht linguistisch struktuiriert.

Dennoch fand ich die Analogie sehr schön, wie die Forscher feststellen, dass Ferkel, deren Muttertiere zuvor Futter mit Anis-Aroma erhielten, bei der Verabreichung von Anis-Futter bei der Entwöhnung vom Muttertier deutlich mehr fraßen und spielten, und weniger Anpassungsschwierigkeiten hatten als andere Ferkel. Es dürfte nicht allzuweit hergeholt sein, zu vermuten, dass vertraute Gerüche auch auf die Entwicklung von Menschen einen deutlichen Einfluss haben. Das können auch bei weitem frühere sein als diejenigen aus der Kirche. ich denke da eher auch an Nahrungsmittel mit künstlichen Aromen. Wer weiß, ob uns hierbei nicht die Nahrungsmittelindustrie schon gezielt manches Schnäppchen schlägt?

In diesem Zusammenhang noch eine audiovisuelle Erinnerung, passend vom Titel eines  frühen „hoch energetischen“ Albums der Red Hot Chili Peppers „Mother’s Milk“ (Bassist Flea sagt: „Sie hält alles Übel ab, beschützt Dich vor Infektionen und ist gut für Dich“):

Lebenslanges Lernen – immergleiche Intelligenz?

Freitag, 21. Oktober 2011

„Dummheit frisst. Intelligenz säuft.“ Dieser Spruch ist mir schon in der Kindheit untergekommen, wobei ich mich dann weder zu sehr zur Intelligenz zugehörig fühlen, noch auch zu stark der Dummheit anheim fallen möchte. In der Romantrilogie „Illuminatus“ von Robert Shea und Robert Anton Wilson heißt es eingangs (aus der Erinnerung): „Intelligenz bedeutet immer eine Vermehrung von Intelligenz“. Allerdings scheinen die Messmethoden durchaus umstritten.

Süddeutsche Zeitung, 20.10.2011, Titel: Spätentwickler

In der Süddeutschen Zeitung wird auf ein Forschungsergebnis von Neurowissenschaftlern des University College London hingewiesen, das unlängst in Nature online veröffentlicht wurde. Dabei wurden bei zwei Intelligenztests, die im Verlauf von vier Jahren gemacht wurden, eklatante Unterschiede zwischen den erzielten Ergebnissen der 12- bis 16-Jährigen sowie derselben Personen als 16- bis 20-Jährige festgestellt. Die Abweichungen betrugen bis zu 20 Punkte nach unten und nach oben. Verfestigt wurde die Richtigkeit der Ergebnisse durch parallel dazu angefertigte MRT-Hirnbilder, wonach Änderungen in den IQ-Werten mit Änderungen in der Hirnstruktur korrespondierten.

Mit Erklärungen für diese Phänomene ist es bislang allerdings nicht weit her. Es scheitn nur so, dass wie es sich bei vielen ktivitäten des Menschen verhält, auch im denken Übung den meister macht. Ob ich Ball oder Frisbee spiele, ob Klavier oder Gitarre – nur druch regelmäßige Übung werde ich besser. Dasselbe gilt vermutlich auch für schreiben, reden, rechnen und dreidimensionales Denken. Es schließt sich die Frage an,. wie es sich bei Erwachsenen verhält. Zwar ist das Gehirn im Alter von zwei oder drei Jahren quasi wie ein Schwamm und bildet in einem Maße neue Verbindungen auf wie nie wieder im späteren Leben. 

Doch auch Älteren sind Wissensgewinne nicht verwehrt. Sie legen sich nur lieber fest, sie verharren leichter auf einem Wissensstand, der schon bald als überholt gelten könnte. Die Schlussfolgerung der Studienleiterin und Autorin Cathy Price jedenfalls lautet, dass wir Leistungsschwache nicht schon in einem frühen Stadium abschreiben und ihnen auch für die Folgejahre Chancen einräumen sollten. Ein weiterer dummer Spruch aus Kindertagen lautet: „Dumm geboren, nichts dazu gelernt und die Hälfte wieder vergessen.“ Ich hoffe, dass er auf niemanden zutrifft. Schließlich ist doch „lebenslanges Lernen“ die Devise von heute.

Die wahre Macht der „Enterprise“

Dienstag, 18. Oktober 2011

Eine relativ belanglose Veröffentlichung zur Auswirkung der „Pille“ auf das Liebesleben von Frauen hat mich zu einer neuartigen Deutung der zeitlos schönen Geschichten der TV-Serie „Raumschiff Enterprise“ gebracht. Eigentlich besagt eine Studie der schottischen Universität Stirling nur, dass Frauen, die die Pille nehmen zwar insgesamt glücklicher mit ihrer Partnerschaft, dafür aber unzufriedener mit ihrem Sexualleben und der Attraktivität ihres Partners sind. Manche Frau erleidet sozusagen ihren ganz persönlichen „Pillenknick“. Aber da ist noch eine andere Interpretationsebene…

Kölner Stadt-Anzeiger, 17.10.2011, Titel: Pille beeinflusst Partnerwahl und Beziehungsglück

Was, wenn sich die Überschrift auf die ferne Zukunft ganz allgemein und im Speziellen sogar auf die „Enterprise“ bezieht? Dann wäre „Pille“, also der Bordarzt mit tiefen Augenringen und weit reichenden Fähigkeiten, folglich der Entscheider über die Verbindungen auf dem Raumschiff. Und warum? Natürlich weil er auf dem neuesten Stand der medizinischen (Zukunfts-)Forschung ist und vermutlich, weil er auch nicht viel anderes tut als Pillen zu verabreichen.

In einem egwagten nächsten Schritt wäre die „Enterprise“ zu deutsch „Unternehmung“ als Sinnbild für das unstete Umherirren des Menschen bei der Partnersuche zu verstehen. „Lass uns was unternehmen“, bedeutet doch in vielen Fällen nichts anderes als „Mein Sexualtrieb ruft“. Und auf diesem Raumschiff mit Warp-Antrieb in fernen Galaxien gibt es nur einen, der alles im Griff hat: Nicht Captain Kirk, der ist einfach zu perfekt (da auch intuitiv begabt), auch nicht Spock, der ist einfach nur logisch und erinnert als Vulkanier mit spitzen Ohren eher an heutige Vampirserien, schon gar nicht der muffelige Checkov, sondern, ganz kalr, Du hast es geahnt: Pille!

Warum: Na lies einfach noch mal die Schlagzeile aus dem Kölner Stadt-Anzeiger oben und dann sieh Dir diese Zusammenfassung der besten Szenen an: Dir wird sicher auch klar, dass nur einer das Lein und Seele zusammenhält: „Pille – Pille – in ihm steckt ein starker Wille….“ 😉

Aderlass-Effekt und irreführende Innensicht

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Heute zwei Themen in einem, gewissermaßen als Doppelfolge der Rubrik „Klarer denken“, allwöchentlich im Montags-Feuilleton der FAZ, mit zwei ähnlich gelagerten Themen: Der hoch geschätzte Rolf Dobelli, Gründer und Kurator des Forums “Zurich.Minds”, hat sich in den beiden jüngsten Ausgaben seiner Reihe  mit den Themen des „Aderlass-Effekts“ und der Selbstbeobachtungs-Illusion befasst.

FAZ, 10.10.11, Titel: Warum Sie Ihre eigenen Überzeugungen so überzeugend finden

Falsche Überzeugungen ist argumentativ nur sehr schwer beizukommen, erläutert der Denker mit praktischen Beispielen. Der Vitamintablettenhersteller, der von Kindesbeinen an täöglich seien Vitamintabletten schluckt, ist aus seiner Sicht sicherlich zutiefst davon überzeugt, dass es die Tabletten sind, die ihm Gesundheit bescheren (vorausgesetzt, ihm geht es mit seinem Livestyle-Produkt nicht nur geschäftlich, sondern auch gesundheitlich gut).

Doch der Blick nach innen ist niemals ehrlich, wie der Autor mit dem Versuch eines schwedischen Psychologen beschreibt: Bei der Ansicht zweier Fotos sollte das attraktivere ausgewählt werden, zur näheren Erläuterung wurde den Probanden dann jedoch das falsche vorgelegt – die allermeisten Teilnehmer bemerkten das nicht und begründeten detailliert, warum ihnen das falsche Bild attraktiver vorkam.

Der im Englischen als „Introspection Illusion“ bezeichnete Denkfehler basiert auf der Vorstellung, bei einer Selbstbefragung würden wahre Ergebnisse zu Tage kommen. – Fehlanzeige! Wir sind voreingenommen von den eigenen Überzeugungen und meinen entweder, die anderen seien ignorant und wissen nicht, was wir wissen (Ignoranz-Annahme), oder wir denken, die anderen sind zu dumm um zu verstehen, was wir wissen (Idiotie-Annahme), bzw. wollen es nicht verstehen (Bosheits-Annahme). Der schlichte Hinweis kritisch gegen sich selber zu sein kann Wunder wirken, denn „Introspektion, der Blick nach innen, ist zum großen Teil Fabrikation.“

FAZ, 03.10.11, Titel: Warum wir uns von unseren falschen Ansichten so ungern trennen

Eine ganz ähnliche Verhaltensweise deckte Rolf Dobelli in der vorigen Kolumne auf, plastisch-drastisch unter dem Begriff „Aderlass-Effekt“ zusammengefasst: Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Methode des Aderlasses weit verbreitet in der Medizin, obwohl es den Patienten anschließend meist schlechter ging (sofern sie eine solche mehrmonatige Therapie überlebten). Die zu Grunde liegende „Vielsäftelehre“ des Körpers dominierte jedoch fast zweitausend Jahre lang die Medizin und wurde nicht aufgegeben, ehe sie durch eine andere, bessere Theorie ersetzt wurde.

Alle Theorien komplexer Systeme, so Rolf Dobelli, betreffen sie nun den Menschen, die Börse, Kriege, Städte, Ökosysteme oder Unternehmen, halten sich so lange, bis sie ersetzt werden, was mitunter weit länger sein kann, als es uns gut tut. Der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat demnach als erster festgestellt, dass Theorien niemals „unter dem Gewicht ihrer Fehler“ kollabieren, sondern „erst, wenn eine andere, scheinbar bessere Theorie vorhanden ist“. Bei Ansichten, heißt es weiter, gibt es kein Schwanken wie zwischen zwei Jobs, Partnern oder Wohnorten, Emotionen kennen nur richtig oder falsch.

Als sehr gutes Beispiel wird die Theorie angeführt, dass die Wirtschaft über die Geldmenge zu steuern sei. Vor dem Kongressausschuss wurde der amerikanische Notenbaker Alan Greenspan im Herbst 2008 vom Vorsitzenden befragt: „Sie realisierten also, dass ihre Sicht der Welt, Ihr Gedankenmodell falsch war?“, was der Befragte unumwunden bejahte. Doch bis heute halten die Regierungen der westlichen Welt noch immer an diesem Modell fest, „und das nur, weil keine Alternative in Sicht ist“. Dobelli rät dem Leser daher, seine Ansichten regelmäßig zu überprüfen, sofern wir „nicht ausbluten wollen“. Ebenfalls ein einfacher, doch sehr angemessener Ratschlag.

Gewinner im Verlustfall

Dienstag, 04. Oktober 2011

Die Rede ist hier nicht von Brokern, die Geld verdienen, indem sie auf fallende Kurse setzen. Die Rede ist auch nicht von Menschen, die von der mangelnden Bedeutung ihrer Existenz getrieben im Extremfall ein Verbrechen begehen, damit sie berühmt würden. Wir sprechen hier von den Menschen, die beabsichtigen zu scheitern und damit zum Erfolg verdammt sind.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.10.11, Titel: Über das gelungene Scheitern

Bei dieser Überschrift handelt es sich um eine Interpretation von Jochaim Sartorius über Ernst Jands frühes Gedicht „Ikarus“ im Rahmen der Frankfurter Anthologie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Zwar ist Ikarus abgestürzt, weil er sich im Flug zu nahe an die Sonne begab, doch die Abschlusszeilen des Gedichts lauten: „Ikarus ging unter / Hoch über den anderen“.

Mit diesem „Hoch über den anderen“ bezieht sich Jandl auf vorige Verse und verdeutlicht, dass Ikarus trotz seines Scheiterns unsterblich geworden ist. Joachim Sartorius interpretiert: „Jandl will uns damit sagen, dass es verrückter Projekte braucht und die Menschheit nicht vorankommt, wenn es nicht einzelne Menschen gibt, die den Himmel herausfordern und lustvoll das Unmögliche versuchen.“

Genau so hätte ich es wohl nicht ausgedrükt, aber dem Verständnis nach ähnlich. Der Text stamt aus dem ersten Gedichtband Jandls „Andere Augen“ von 1954 und zeigt noch nicht das für den späteren Jandl typische Spielen und Jonglieren mit Worten. Nach dem Einstieg ins Gedicht „Er flog hoch / über den anderen“ folgt später „Er flog höher / als sein Vater, der kunstgewandte / Dädalus.“

Sartorius schreibt, was ich voll und ganz unterstütze, dass in diesem frühen text schon „der ganze Jandl da“ sei : „Ökonomie der Mittel, raffiniert gesetzte, dem knppen Text großen Nachdruck verleihende Wiederholungen.“ Zurück bezogen auf die Bedeutungsebene heißt das: Ikarus ist es gelungen, unsterblich zu werden, auch wenn er gescheitert ist, oder sogar weil er gescheitert ist.

Dennoch ist er aber geflogen und hat den Traum vom Fliegen verwirklicht. Wer denkt schon an die Landung, wenn er abhebt? Heute wissen wir längst: Runter kommen sie alle!

Kein „Bond-Bund“ fürs Leben

Samstag, 01. Oktober 2011

Daniel Craig macht nach dem dritten Einsatz als 007, Geheimagent ihrer Majestät, Schluss. Zeit, den Mythos wieder neu zu erfinden oder einfach mal auf sich beruhen zu lassen. Doch dafür scheint die Serie zu erfolgreich zu sein, auch wenn es für den aktuell in Planung befindlichen Film mit dem Arbeitstitel „Carte Blanche“ erhebliche Finanzierungsschwierigkeiten gab. Schwer zu sagen, was die wahren Motive des derzeitigen Hauptdarstellers sind, auf eine Fortsetzung der Rolle zu verzichten.

Kölner Stadt-Anzeiger, 01.10.2011, Titel: Die Revolte des Menschlichen

Frank Olbert mutmaßt im heutigen Kölner Stadt-Anzeiger, dass die von Daniel Craig angegebenen Gründe die zutreffenden sein dürften. Der Schauspieler ist 43, tägliches Workout ist nach eigenen Angaben nicht das, was er als Mann im fortgeschrittenen (wenn auch immer noch bestem) Alter im Sinn hat: „Ich hasse es“, sagte er. Jüngere sollten ran. Dabei war der blonde, markante Darsteller vor 5 Jahren mit einer sehr physischen Neuinterpretation der Rolle aufgetreten, hatte in „Casino Royale“ und anschließend in „Ein Quantum Trost“ eine viel weniger ironische, knallharte Interpretation der Rolle geliefert.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bond-Filme mit Craig quasi als „Prequels“ definiert wurden, um die Vorgeschichte des Agenten mit der Lizenz zum Töten aufzuarbeiten. Wie er wurde, der er früher war, gewissermaßen. Dabei lernte er erst den berühmten „Wodka-Martini“ schätzen, auch wenn ihm die essentielle Frage „geschüttelt oder gerührt“ da noch nicht interessierte. Nach Abschluss der Trilogie der Vorgeschichten (der neue Film soll im November 2012 in die Kinos kommen) ist vermutlich eine weitere Kehrtwende des Charakters nötig, oder aber die Positionierung  der Geschichten in anderen Zeiten.

Mit dem frühzeitig angekündigten Ausstieg aus der Rolle könnte der Schauspieler aber auch verhindern, dass er darauf reduziert würde (was allerdings auch einem Sean Connery nicht widerfahren ist), obwohl er derzeit mit „Cowboys und Aliens“ und als vorgesehene Hauptrolle in der US-Verfilmung von Stieg Larssons erfolgreicher Millennium-Trilogie genug anderes zu tun hat. Er könnte auch die Reißleine ziehen, um nicht miterleben zu müssen, wie das von Sony übernommene Filmstudio Metro Goldwyn Mayer der Finanzierung solcher Projekte nicht mehr gewachsen sein könnte.

Für mich, der mit der Fiktion der James-Bond-Filme groß geworden ist, eine besodners spannende Frage, wie es nach dem Kinoerfolg des dritten Craig-Teils mit der Serie weitergehen wird. An dem Erfolg zweifelt spätestens seit Craigs Ausstiegsplänen keiner, schließlich haben die Teile eins und zwei beider und 600 Millionen Dollar eingespielt. Vom Spannungsverlauf soll dieser Film nach einem schwächeren zweiten den starken ersten „Craig-Bond“ noch übertreffen. Vielleicht wäre danach auch eine Option, die künstliche Legendenbildung einer Figur, die der politischen Weltlage des Kalten Krieges entstammt, zu stoppen und die Serie abzuschließen.

Trotz aller kommerziellen Gründe, die dagegen sprechen, könnte nicht nur für Daniel Craig, sondern auch für die Produzenten einmal der Zeitpunkt gekommen sein, einen Schlusspunkt zu setzen. Es muss keinen „Bond-Bund fürs leben“ geben, weder für Craig, noch für die Serie selbst und damit für die Zuschauer. Dies würde jedenfalls die Legendenbildung der bisherigen Darsteller und der Filmerfolge befördern.

Bauern-Unkenntnis oder das „NIH-Syndrom“

Donnerstag, 29. September 2011

Das Sprichwort sagt: „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht.“ Mehr noch: Vielen steht die Angst vor Veränderungen buchstäblich ins Gesicht geschrieben, wann immer sich die Chance dazu ergibt. Bauern-Unkenntnis dürfte demnach die Kehrseite der Bauern-Schläue sein. Ähnlich geht es auch klugen Köpfen, wenn es darum geht, denkerische Leistungen anderer zu würdigen. 

Der verehrte Rolf Dobelli, der Gründer und Kurator des Forums “Zurich.Minds”, hat in seiner jüngsten Ausgabe seiner Reihe „Klarer denken“ (immer montags im Feuilleton der FAZ), das so genannte „NIH-Syndrom“ behandelt. Es steht für „Not invented here“ und uimschreibt die Tatsache, dass gute Ideen oft nciht erkannt werden, wenn sie jemand anders hatte.

FAZ, 26.09.11, Titel: Warum wir uns in die eigenen Ideen verlieben

Nun könnte der Eindruck entstehen, wenn etwas wo anders erfunden wurde, fällt es mir aus Gründen ungenauer Kommunikation schwer, der Idee zu folgen. Doch das ist hier nicht gemeint. Unternehmen tednieren nachgewiesenermaßen dazu, diejeingen Ideen, die eigene Mitarbeiter hervorbrachten für besser zu halten als die der Konkurrenz. Dies ist bereits bei Brain Stormings zu erkennen, wenn mehrere Menschen Lösungen suchen: Die eigenen Ideen werden stets am besten bewertet. Autor Dobelli macht das Phänomen sogar für die schlechten Renditen vieler Start-Ups verantwortlich.

Ein schöner Beleg stammt aus dem Buch „The Upside of Irrationality“ des Psychologen Dan Ariely: Im Blog der New York Times sammelte er Vorschläge zum Senken des Wasserverbrauchs und bat um Bewertungen der Anwendbarkeit. Die Antworten waren absichtlich auf wenige Wörter begrenzt, sodass viele sehr ähnliche Vorschläge abgaben. Dennoch wurden die eigenen Ideen ganz vorwiegend am besten bewertet.

Ein anderes, kulturhistorisches Beispiel entstammt der weiterführenden Beobachtung, dass gute Ideen aus anderen Kulturkreisen ebenfalls nicht gerne übernommen werden. So war der Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden bis zu einem Bundesgerichts-Entscheid im Jahr 1990 unbelehrbar, wenn es um das Stimmrecht  für Frauen ging, ringsumher eine Selbstverständlichkeit seit langem.

Um dem beliebten Trugschluss nicht zu unterliegen (wer nochmal hat Amerika entdeckt?), rät der Autor zu Abstand und dazu, sich die Frage zu beantworten, welche eigene Idee der vergangenen Jahre wirklich so herausragend war, dass sie noch heute Bestand hätte. Abschließend eine kurze englische Erörterung des Autors Dan Ariely zum NIH-Kapitel seines Buchs. Sehr schön darin auch die Umschreibung des Phänomens als „Toothbrush Theory“: jeder bracuht eine, jeder will eine (Idee), aber niemand möchte die des anderen nutzen.

Ich glaube, dass ich nicht glaube

Donnerstag, 22. September 2011

Passend zum heutigen Papstbesuch in Deutschland hat Joumana Haddad wie jeden zweiten Donnerstag in der Welt eine Kolumne veröffentlicht, die mich sehr überzeugt hat. Sie liefert zwanzig überzeugende Gründe, warum sie nicht an Gott glaubt. Die einfach gehaltenen Begründungen reichen von „weil ich lebensverbessernde Erfindungen bevorzuge“ über „weil er in der Auswahl seiner Stellvertreter bisher einen lausigen Job gemacht hat“ bis hin zu „weil ich mein eigener Gott bin. Und mich muss man ganz gewiss nicht anbeten.“

Die Welt, 22.09.2011, Titel: Warum ich nicht glaube

Im zweiten genannten Argument schwingt bereits ein Zweifel mit, ob es „jenes höhere Wesen, das wir verehren“, vielleicht doch gibt? Dieser Widerspruch wiederholt sich in den Begründungen, „weil er gefürchtet und verehrt werden will“, „weil seine Belohnungen Betrug sind und seine Strafen unter seiner Würde“ sowie „weil er es mir jeden Tag schwerer macht, an ihn zu glauben“. Rekurriert sie nur auf das Gedankenmodell anderer Gläubiger oder auf eine Vergangenheit, in der sie Lehrer zum Glaubven erzogen haben? Das würde für einem verloren gegangenen Glauben sprechen, oder aber  für eine zwiegeteilte Auffassung, einerseits vom Verstand geleitet („lebensverbessernde Erfindungen“), andererseits vom Gefühl oder von der Überlieferung geleitet („weil er gefürchtet und verehrt werden will“).

Darüber hinaus spricht aus dem bravourös getexteten „Antigebet“ eine sehr starke, selbstbewusste Haltung, dargestellt durch die in meinen Augen entscheidenen Argumente: „weil ich nicht auf Hölle und Paradies warten möchte, ich lebe sie lieber im Hier und Jetzt aus“, „weil ich meine Würde als Frau habe“, „weil ich mir lieber selber Regeln setze. Und sie breche“ sowie „weil ich an mich selber glaube. Und dieser Glaube ist mit dem an Gott nicht kompatibel“. Die „Nichtkompatibilität des Glaubens“ gefällt mir sehr gut. Sie schließt Wunder gar nicht aus („weil dieses Universum ein Wunder ist, das jenseits seiner Möglichkeiten liegt“), geht aber von einer zwischenmenschlichen Welt aus, deren Regeln des Zusammenlebens von Menschen bestimmt sind.

Ich finde dieses „Nichtglaubensbekenntnis“ umso beeindruckeneder, weil es von einer libanesischen Schriftstellerin stammt, die sich in der islamischen Welt gegen weit weniger liberale Glaubensrichtungen als in Europa durchsetzen muss. Wie ich gehört habe, ist dem Moslem Gott so nahe wie seine Halsschlagader. Sicherlich, wer an Gott glaubt, dessen Leben hängt an seinem Faden. Wenn er sich zum Märtyrertod berufen fühlt, dann legt er in religiöser Verblendung sein Leben in Gottes Hände. Wichtig ist in diesem Zsuammenhang daher noch mal der Hinweis auf die unbedingte Trennung zwischen Kirche und Staat – was mit einer Papstrede im Bundestag in meinen Augen jedoch wenig zu tun hat.

Umgekehrt haben vom Glauben inspirierte moralische Lehren der Menschheit einigen Ärger erspart, kirchliche Willkür und Ungerechtigkeit aber auch großes Leid beschert. Daher ist vielleicht doch diese eine Begründung die zentrale, unabrückbare: „Ich glaube nicht an Gott, weil ich Gerechtigkeit, Freiheit und Wahlmöglichkeit unterstütze.“